Tessy 02: Tessy und die Lust des Mörders
die Marchandstraße ein, eine ruhige Anwohnerstraße, die an den Friedhof grenzte, und suchte sich einen Parkplatz. Nach kurzem Überlegen nahm sie ihr Fahrrad mit und schloss es vor dem Friedhof an, wo sich bereits eine große Schar von Trauergästen versammelt hatte. Tessy erkannte aus den Augenwinkeln Hugo Brandner, der etwas abseits stand. Sie beachtete ihn nicht, sondern betrat den Friedhof und drehte eine kleine Runde, bis der Trauerzug Aufstellung nahm und gemessenen Schrittes zur Grabstelle zog.
Tessy folgte ihm auf einem parallel verlaufenden Weg, blieb hier und dort stehen, bis die Trauergäste das offene Grab erreicht hatten und die Zeremonie begann. Sie tat völlig unbeteiligt und nahm schließlich vor einem bescheidenden Familiengrab im Schutze einer Baumgruppe Aufstellung, wo sie sich bemühte, den Anschein konzentrierter Besinnlichkeit zu erwecken, während sie hin und wieder den Blick hob, um die Beerdigung im Auge zu behalten. Ungefähr zwanzig, dreißig Meter trennten sie von der Beerdigung. Sie faltete die Hände und sah zu Boden. Wer es nicht besser wusste, ging hoffentlich davon aus, dass sie Grabstelle eines lieben Menschen besuchte, um ihm in stiller Meditation zu gedenken. Lediglich das Wetter passte nicht ins Bild. Tessy war froh, warme Unterwäsche und dicke Socken angezogen zu haben.
Als sie das nächste Mal zur Seite blickte, war Bewegung in den Zug gekommen. Einzelne Leute traten vor, um Erde auf den Sarg zu werfen. Brandner nutzte die Gelegenheit, bückte sich, schnürte sich die Schuhsenkel und schob das Geldpaket, das er unter dem Mantel hervorzog, rasch unter einen Kranz auf dem Nachbargrab. Niemand außer Tessy hatte etwas mitbekommen – zumindest schien es ihr so.
Einige Minuten später machte sich der Trauerzug auf den Rückweg, unter ihnen Brandner, der seine Schritte beschleunigte, je näher er dem Hauptweg kam. Tessy bückte sich und zupfte einen Tannenzweig zurecht, während sie die beiden Gräber im Auge behielt. Aber dort tat sich … nichts. Zwei Friedhofsangestellte schaufelten Erde auf den Sarg, niemand befand sich in der Nähe des Nachbargrabes.
Zehn Minuten später begann Tessy auf der Stelle zu trampeln, um ihre eiskalten Füße vor dem Erfrieren zu bewahren. Sie machte ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung und wanderte wieder zum Familiengrab zurück, wo sie erneut andächtig die einzelnen Geburts- und Sterbedaten musterte. Plötzlich war jemand auf dem Hauptweg zu sehen. Tessy spähte vorsichtig hoch und stöhnte dann leise auf. Ein alter Mann schlurfte über den Friedhof. Er schien trotz Mütze, Mantel und Schal erbärmlich zu frieren, aber nichtsdestotrotz entschlossen, seinen Rundgang zu absolvieren. Er ging gebückt, um sich vor dem kalten Wind zu schützen und pfiff leise.
Tessy wandte sich seufzend ab und ging erneut ein paar Schritte. Irgendetwas ließ sie stutzen. Auf dem Friedhof pfeift man nicht. Sie drehte sich um. Der alte Mann war weiter geschlurft und pfiff immer noch. Leise, aber beharrlich. Gleichzeitig näherte sich von der anderen Seite ein kleiner Traktor mit Anhänger. Die Aufschrift „Städtisches Friedhofswesen“ leuchtete fast aufdringlich fröhlich. Tessy erkannte zwei junge Männer in gartengrünem Outfit und Mützen mit Ohrenwärmern. Das muss gar nichts heißen, dachte sie.
Sie wollte sich gerade hinter einen hohen Busch zurückziehen, um die beiden genau zu beobachten, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Sie wandte den Kopf. Der alte Mann ging immer noch pfeifend seiner Wege. Allerdings war sein Gang auf einmal flotter, und er ging deutlich aufrechter. Tessy stutzte. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und hätte beinahe laut aufgestöhnt. Meine Güte – da ist er, dachte sie, und plötzlich erinnerte sie sich an Brandners Beschreibung des jugendlichen Bikers, der vor sich hingepfiffen hatte.
So unauffällig wie möglich heftete sie sich an seine Fersen. Je näher sie dem Ausgang kamen, umso flüssiger wurde der Laufstil des Alten. Einige Male blieb er abrupt stehen, um sich mit forschenden Blicken umzusehen, und Tessy erstarrte jedes Mal in andächtiger Stille vor dem nächstbesten Grab.
Wenn der Typ im Gegensatz zu mir direkt vor dem Ausgang einen Parkplatz ergattern konnte, sehe ich alt aus, dachte Tessy, als das hohe schmiedeeiserne Tor in Sicht kam, und plötzlich war ihr gar nicht mehr kalt. Doch sie hatte Glück. Der Mann überquerte schnurstracks und ohne
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