Tessy 02: Tessy und die Lust des Mörders
Braunäugige legte das Handy beiseite. Für den Bruchteil einer Schrecksekunde schoss Tessy der böse Verdacht durch den Kopf, sie könnte einen riesengroßen Fehler gemacht haben – zum zweiten Mal an diesem Tag – und auf eine ganz fiese Tour hereingefallen sein. Sie hielt kurz die Luft an. Doch plötzlich huschte ein leises Lächeln über sein Gesicht. „Ich heiße übrigens Oliver.“
Tessy atmete erleichtert aus. „Wie wäre es, wenn du mir die Fesseln abnehmen würdest, Oliver? Eine Kopfschmerztablette wäre auch keine schlechte Idee. Und dann will ich wissen, was hier eigentlich los ist. Immerhin sind mir gerade zehntausend Euro durch die Lappen gegangen.“
Am anderen Ende des Dachbodens führte eine schmale Eisentür, die geschickt hinter einem Berg Müll und Gerümpel verborgen war, in einen dunklen Flur, der auf der einen Seite einen Treppenabgang erahnen ließ und auf der anderen an eine weitere Tür grenzte. Oliver schloss sie auf und bat Tessy mit einer einladenden Handbewegung herein.
„Hier wohnst du?“ Tessy sah sich staunend um. Keine Frage, im Gegensatz zum Dachboden und dem angeranzten Gesamtambiente des Hauses wirkte die kleine Mansardenwohnung nahezu gemütlich, aber es war kalt, und die Einrichtung war wild zusammengestellt – ein Sammelsurium billiger Möbel und Gebrauchsgegenstände.
„Ja, hier wohne ich.“ Er bereitete die Arme aus und nahm einen mobilen Gas-Heizkörper in Betrieb, der nach Tessys Schätzung vor ungefähr dreißig Jahren modern gewesen sein dürfte.
„Natürlich illegal“, fuhr er fort. „Offiziell wohnt hier niemand mehr, und in Kürze soll der Komplex abgerissen werden. Dann entstehen hier Büros und so’n Scheiß. Aber das erzählen sie schon seit einem Jahr…“ Er winkte ab. „Strom habe ich mir durch den Keller vom Nachbarhaus herübergelegt. Mal sehen, wann die das spitz kriegen…“
Ein jungenhaftes Grinsen flog über sein Gesicht und machte es für einen Moment zehn Jahre jünger und sehr sympathisch. „Aber die Kälte ist natürlich ein Problem. Der letzte Winter war kein Zuckerschlecken, kann ich dir sagen. Setz dich doch.“
Er wies auf eine Couch an der Rückwand der Küche. „Ich koche uns einen Tee.“
Tessy rieb sich die Hände. Allmählich wurde es wärmer. Verstohlen rieb sie sich über Kinn und Wange – der Schlag hatte wirklich gut gesessen –, während der Wasserkessel, Jahrgang und Modell Edgar, zu summen begann.
„Warum wohnst du eigentlich so bescheiden?“, fragte sie, als Oliver sich zu ihr gesetzt und den duftenden Tee eingegossen hatte. Zitrone-Ingwer, wenn sie nicht alles täuschte.
Er rührte vier Löffel Zucker in seine Tasse und überlegte einen Moment. „Ich kann nicht mit Geld umgehen“, meinte er schließlich bemerkenswert ehrlich und schüttelte den Kopf. Eine Locke fiel ihm in die Stirn, die er unwirsch beiseite schob.
„Oh“, machte Tessy. Sie begnügte sich mit drei Zuckerstücken und etwas Sahne. „Aber hunderttausend müssten doch ausreichen, um sich eine andere Bude leisten zu können und seine Stromrechnung ganz legal zu bezahlen.“
Oliver hielt inne und lachte dann kurz und trocken auf. „Hat er das erzählt? Dass ich hunderttausend gekriegt habe?“
„Ja.“
„Ich wollte fünfzig. Er hat zwanzig gezahlt – beim ersten Mal und heute auch. Glaub es oder lass es bleiben. Damit kann ich kaum meine Schulden bezahlen.“
Tessy lehnte sich zurück und musterte ihn skeptisch. Aber ihr Bauch sagte ihr, dass er keinen Mist erzählte. Welchen Sinn sollte das auch haben?
„Ich hab’ einen Haufen Spielschulden“, fuhr er fort, nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte. „Ich bin Spieler – ich mache den gleichen Fehler immer und immer wieder.“ Er ließ den Blick durch die ärmliche Küche schweifen. „Darum lebe ich so. Und darum habe ich Lilly um Hilfe gebeten. Mal wieder.“
„Wer ist Lilly?“
„Meine Schwester.“ Seine Hände umschlossen die Teetasse, und seine Stimme war plötzlich schwer und dunkel. „Sie hat sich mit Brandner und seinen Kumpeln eingelassen – sie und eine andere Frau. Die Kerle haben den beiden eine Menge Geld geboten, und Lilly ist darauf eingegangen, um mir zu helfen. Ein Gläubiger, der überhaupt keinen Spaß versteht, saß mir verdammt unangenehm im Nacken.“ Er rieb sich über die Nase.
„Was ist passiert?“, fragte Tessy.
Statt einer Antwort stand Oliver auf
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