Tessy 02: Tessy und die Lust des Mörders
und ging ins Nebenzimmer. Als er zurückkam, hatte einen Laptop dabei – nicht gerade das allerneueste Modell, doch im Vergleich zu seiner Einrichtung wirkte der Computer nahezu surrealistisch modern. „Aber ich sage dir, das ist nichts für schwache Nerven“, erläuterte er, während er ihn hochfuhr.
Oliver sollte recht behalten. Die Videoaufnahmen hatten in der Tat so gut wie nichts mit dem Filmchen zu tun, das Brandner ihr gezeigt hatte. Olivers Aufnahmen waren zum Teil verwackelt und unscharf, aber es war deutlich zu erkennen, dass vier Typen sich über zwei Frauen hermachten, wobei Lilly und ihre Freier – Brandner und ein zweiter Mann – im Fokus standen, während die andere Frau lediglich ab und an ins Bild rückte. Tessy hielt die Luft an, während sie das Geschehen mit zunehmend größerem Entsetzen verfolgte.
Sie war kein Kind von Traurigkeit und hatte hin und wieder auch nichts gegen eine Portion Ruppigkeit beim Sex einzuwenden – Gertrud versohlte ihr manchmal den Hintern auf zauberhafte Weise oder spielte die autoritäre Geliebte, wobei es handfest zur Sache ging –, aber die Videoszenen hatten nichts mehr mit einvernehmlichen Spielchen oder dezenten SM-Praktiken zu tun.
Abgesehen von den ersten Minuten lebten die Männer schlicht und ergreifend ihre Gewalt- und Hassfantasien aus. Sie schlugen, fesselten, würgten und vergewaltigten die beiden Frauen auf übelste Art, und ihre Schreie waren voller Angst und Schmerz.
Tessy war elend. Sie wandte den Blick ab und sah Oliver an. „Mein Gott, warum bist du nicht dazwischen gegangen oder hast die Polizei gerufen?“, fuhr sie ihn entgeistert an.
„Als ich mitbekam, was da abging, war es zu spät“, flüsterte er und betätigte die Stopptaste.
„Was? Wie darf ich mir das denn vorstellen? Du hast die Aktion doch gefilmt – eingepennt wirst du wohl nicht sein!“, entgegnete Tessy empört.
„Ich hab die Kamera an einem versteckten Platz aufgestellt, mich dann verkrochen und mir Musik auf die Ohren gemacht.“
„Das ist doch nicht dein Ernst!“ Tessy starrte ihn fassungslos an. Der junge Mann war dabei, seine gerade gewonnenen Sympathien zu verspielen.
Er hob die Hände. „Scheiße – ja! Meinst du, ich sehe meiner Schwester beim Ficken zu? Noch dazu mit einem oder sogar mehreren Freiern? Mann, kapier doch: Das war mir unangenehm! Die Idee mit der Filmerei ist mir ganz spontan gekommen, als Lilly erzählte, dass sie ein Date mit irgendwelchen Geldsäcken hätte. Da ist mehr zu holen, dachte ich. Ich bin dem Trupp hinterher geschlichen und hab mich in der Halle versteckt, nachdem ich einen morschen Seiteneingang entdeckt und meine Kamera angestellt hatte. Als ich dann nach zehn, fünfzehn Minuten die Einstellungen überprüfen wollte und mal genauer hingesehen habe, ging es plötzlich richtig zur Sache…“
„Und? Immer noch Zeit, was zu unternehmen.“
„Meine Güte, ich hatte die Hosen voll! Die waren zu viert und haben so was von keinen Spaß verstanden.“
„So kann man es auch ausdrücken: Deine Schwester und ihre Kollegin sind brutalst zusammengeschlagen und übel vergewaltigt worden, und du hast noch nicht mal soviel Eier in der Hose, dass du die Bullen holst?“, schäumte Tessy vor Wut und zeigte ihm einen Vogel.
„Stattdessen filmst du munter weiter und willst Brandner nun zumindest finanziell an die Wäsche“, wütete sie weiter. „Ist ja richtig mutig! Ich hoffe doch sehr, dass die Frauen wenigstens was davon abkriegen! Wie geht es den beiden eigentlich inzwischen?“
Er schwieg so lange, dass Tessy zunächst noch wütender wurde und schließlich zu begreifen begann. „Oh nein“, flüsterte sie.
Oliver nickte langsam. „Doch. Lilly ist tot. Brandner hat sie erwürgt.“ Er zeigte auf den Monitor. „Das ist auch auf dem Film zu sehen. Ich erspar dir die Szene. Was aus der anderen Frau geworden ist, weiß ich nicht. Sie war irgendwann verschwunden. Sehr wahrscheinlich lebt sie auch nicht mehr.“ Er wischte sich über den Mund. „Und gestern war Lillys Bild in der Zeitung. Sie haben sie aus dem Papenfuhlbecken gefischt.“
Lange Zeit hörte man nur das zärtliche Klacken des Heizkörpers.
„Wir müssen zur Polizei“, sagte Tessy schließlich.
Er schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. „Vergiss es. Ich hab mich ein bisschen in der Szene umgehört: Brandner ist gefährlich. Eine Leiche mehr oder weniger interessiert den gar nicht.
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