Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
flach und heiser.
„Wer spricht denn da?“ fragte Tessy und gab sich wenig Mühe, ihr Gähnen zu unterdrücken.
„Kerstin.“
Tessy hob den Kopf, rieb sich die Augen und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. „Kerstin?“ Das Licht blendete. Sie blinzelte in Richtung Wecker. „Bei aller Freundschaft, aber sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
„Patrick. Es geht um Patrick.“
Tessys Herzschlag beschleunigte sich.
„Du musst kommen – sofort! Bitte!“
Patrick Riemer war nach der Trennung von seiner Frau Kerstin vor zwei Jahren nach Berlin Lichterfelde gezogen und wohnte im obersten Stock eines vierstöckigen sanierten Altbaus. Kerstin hatte zwar nicht die Scheidung eingereicht, aber die Beziehung zunächst für beendet erklärt, als Patricks Alkoholprobleme überhand genommen hatten – auch zum Schutz ihrer beiden gemeinsamen Kinder Cindy und Nick. Tessy hatte sich so manche Nacht um die Ohren geschlagen, damit die Freundin sich bei ihr ausheulen konnte. In den letzten Monaten waren sich Patrick und Kerstin wieder näher gekommen, und es hatte Tessy nicht sonderlich überrascht, dass die beiden es noch einmal miteinander versuchen wollten und eifrig Zukunftspläne schmiedeten. Patrick hatte es verdient; Kerstin sowieso. Tessy hielt ihn für einen passablen Typen und engagierten Vater, und die beiden waren ein gutes Team – so lange Patrick sich nicht vom Stress im Job unterkriegen ließ oder ihn mit Alkohol bekämpfen wollte. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Innerhalb weniger Stunden war alles zusammengebrochen, was für Kerstin und ihre Kinder wichtig und bedeutungsvoll gewesen war. Patrick war tot.
Als Tessy in eine Nebenstraße einbog, um nach einem Parkplatz Ausschau zu halten, sah sie schon von weitem Polizei- und Krankenwagen. Ihre Knie zitterten, als sie ausstieg. Sie konnte immer noch nicht glauben, was Kerstin ihr in abgerissenen Satzfetzen zugeraunt hatte, während sie in ihre Klamotten geschlüpft war.
Die Tür zum Treppenhaus stand auf, und Tessy betrat den Flur. Sie hörte Stimmen, Schritte, Telefonklingeln. Leute standen in Morgenmänteln herum – wahrscheinlich Nachbarn, die die Unruhe aus dem Bett getrieben hatte. Oder die Neugier. Tessy schob sich an ihnen vorbei. Zwei uniformierte Polizisten kamen ihr entgegen, gefolgt von einem Mann und einer Frau in weißer Schutzkleidung. Kriminaltechnik.
Tessy hatte während ihrer Zeit als Journalistin häufig über Kriminalfälle geschrieben, was sie außerordentlich spannend gefunden hatte, aber es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, dass sie auch mal ganz privat mit der Kripo zu tun haben könnte und nun einer Freundin zur Seite stehen musste, deren Mann auf grausigste Weise ums Leben gekommen war.
Kerstin saß im Wohnzimmer auf der Couch – das konnte Tessy durch die halbgeöffnete Wohnungstür erspähen. Das Gesicht in den Händen vergraben. Tessy schob die Tür ganz auf und machte den halbherzigen Versuch, sich zu sammeln.
Plötzlich stand ein groß gewachsener Mann in Jeans und Lederjacke vor ihr und verstellte ihr den Weg. Tessy brauchte nur eine Sekunde, um ihn zu erkennen: Kriminalhauptkommissar Dirk Hanter. Bartschatten, blaue, schmale geschnittene Augen unter dunklen Brauen und ein nachdenklicher Mund, der im Moment sehr müde wirkte. Oder erschöpft. Auch Dirk Hanter war offensichtlich erst kürzlich aus dem Bett geholt worden. „Sie können hier im Moment nicht einfach …“ Er brach ab und musterte sie verblüfft. „Heh, Tessy.“
„Doch, ich kann. Hallo Dirk“, gab Tessy zurück.
Hanter war einer von den Kriminalbeamten, mit denen sie noch bis vor kurzem oft zu tun gehabt hatte. Sie mochte ihn, und zwar nicht nur weil er ihr gegenüber trotz seiner berufsbedingten Vorbehalte gegen die schreibende Zunft häufiger mal eine Bemerkung mehr über den einen oder anderen Fall gemacht hatte. Sie fand ihn anziehend. Männer wie er sorgten dafür, dass Tessys Interesse auch am Sex mit dem anderen Geschlecht nicht nachließ. Trotz Gertrud oder Sabine oder Maika oder wie sie gerade hießen. Tessy legte sich nicht gerne fest. So oder so nicht. Warum auch? Sie liebte die Abwechslung und das Spiel mit dem Feuer, sie war neugierig und stets auf der Suche, und so lange sie keine Lust verspürte, eine feste Beziehung einzugehen, mit wem auch immer, oder eine Familie zu gründen, sah sie keinerlei Anlass, ihr Liebesleben in so genannte geordnete Bahnen zu lenken. Wie langweilig. Egal, was
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