Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
andere dazu sagten. Glücklicherweise war Gertrud ganz und gar ihrer Meinung, und die beiden verbrachten aufregende Stunden miteinander, um dann jeweils ihrer Wege zu gehen. Ein wunderbares Arrangement.
Dirk lehnte sich an den Türrahmen. „Du bist früh unterwegs. Hast du Polizeifunk gehört?“
„Nein. Ich bin privat hier. Kerstin hat mich angerufen. Sie ist eine enge Freundin.“
„Ach du Scheiße.“ Hanter sah sie einen Moment schweigend an. „Okay, verstehe. Du kanntest ihren Mann also auch?“
„Ja. Lässt du mich jetzt erst mal zu ihr? Ich glaube, sie braucht mich ziemlich dringend.“
Hanter nickte und gab die Tür frei. „Sag mal, stimmt das eigentlich – ich habe gehört, dass du gar nicht mehr beim Tagesblatt bist?“
Sie hob das Kinn. „Ja, und ich bin heilfroh darüber.“
„Und was machst du jetzt so?“
„Urlaub im sonnigen Süden von Berlin und mich um meine Freundin kümmern.“
„Aha. Na schön – wir reden später noch. Ach, noch was …“ Er nickte in Kerstins Richtung. „Gerade war eine Ärztin hier und hat ihr was gegeben. Nur dass du Bescheid weißt.“ Dann wandte er sich um und schlenderte in die Küche. Tessy blickte ihm kurz hinterher, bevor sie den Raum betrat.
Kerstin sah ihr entgegen. Ihr Gesicht war verquollen und fleckig. Ein frischer Luftzug wehte durch die offene Balkontür herein. Tessy bemerkte die Silhouette eines Mannes – ein Kriminaltechniker nahm Fingerabdrücke, fotografierte und überprüfte das Geländer, über das Patrick irgendwann in der Nacht in die Tiefe gestürzt war, um einen Moment später von den Eisenspitzen des Zauns aufgespießt zu werden. Zwei Passanten hatten ihn entdeckt. Sie setzte sich neben Kerstin und legte den Arm um sie. Die Freundin zitterte, als wäre sie völlig ausgekühlt. Sie roch nach Schweiß und Angst. Tessy strich mit zarten, vorsichtigen Händen über ihren Rücken und spürte, wie die Verzweiflung auf sie übergreifen wollte.
Kapitel 2
Als Tessy fast drei Stunden nach ihrem frühen Aufbruch nach Marienfelde zurückkehrte, hatte sie frische Brötchen dabei. Es kam ihr ziemlich unpassend vor, an ein appetitliches Frühstück zu denken, aber sie hatte Hunger, und mit leerem Bauch war sie zu nichts zu gebrauchen. Außerdem verfügte sie grundsätzlich über einen robusten Magen und einen gesunden Appetit, auch und gerade bei nervlicher Anspannung, was ihre gertenschlanke und diätversessene Mutter stets entsetzte – aber das spielte nun wirklich keine Rolle.
Tessy betrat das Grundstück durch die kleine Gartentür. Direkt hinterm Zaun begannen Wiese und Felder, der südliche Berliner Mauerweg und das Land Brandenburg: ein Paradies für Hundebesitzer, Jogger, Radfahrer, wobei sich die Interessen der einzelnen Gruppen manchmal ein wenig überschnitten …
Onkel Edgar hatte wie einige seiner Nachbarn vor Jahrzehnten begonnen, seine Laube Stück für Stück zu einem festen Wohnsitz auszubauen. Ganz fertig war er nie geworden, zumal seine handwerkliche Begabung gutes Hobbymittelmaß kaum überschritt, und das Haus wirkte weder besonders gepflegt noch schön, erst recht nicht nach dem Tod seiner Frau Martha vor gut zehn Jahren. Benutztes Geschirr musste schon mal zwei, drei Tage im Spülbecken ausharren, und mit dem Putzen nahm er es auch nicht so genau … Kurz und gut: Sein Domizil war nichts für empfindliche Nasen, und bei einer hausfraulichen Begutachtung hätte es außer in der Sparte kauziger Charme kaum Chancen. Es betörte eher durch seine raue Individualität – wie er selbst auch.
Edgar war Tierpfleger im Berliner Zoo gewesen, spezialisiert auf Katzen in jeder Größe und Stimmungslage. Manchmal kam er Tessy selbst wie ein alter zerzauster und ziemlich schlauer Kater vor, aber das sagte sie ihm nicht. Seit er die fünfundsiebzig überschritten hatte, reagierte er hin und wieder etwas empfindlich auf das Wort „alt“.
Vor einigen Wochen, als ihr finanzieller Engpass nach dem Aus beim Tageblatt immer offensichtlicher geworden war, hatte Edgar ihr angeboten, ihre teure Wohnung in Kreuzberg aufzugeben und erstmal in sein Haus zu ziehen. Sie könnte für ein bisschen Ordnung und Sauberkeit sorgen und sich um seine Katzen Pepper und Chili kümmern, während er endlich sein Versprechen einlöste und für einige Monate einen alten Freund besuchte, der sich in Bayern beim Bund Naturschutz in einem Projekt für Wildkatzen engagierte. Wenn Edgar zurückkehrte, würde man weitersehen. Nach seinen letzten
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