Teufelsberg: Roman (German Edition)
einmal schminken, und wenn sie etwas im Auge hatte, konnte sie nicht nachschauen, was es war.
Sie verstand nicht, warum es so schwer war, sie selbst zu bleiben. Manchmal wollte sie sich darüber beschweren, aber sie wusste nicht, bei wem. Erst nach langer Zeit gab der Beißer auf und verschwand aus dem Spiegel. Vielleicht hatte er ein neues Opfer gefunden. Beate versuchte, nicht mehr an ihn zu denken.
Sie verriet es keinem, auch nicht im Raucherraum, dass der Beißer nach dreißig Jahren zurückgekehrt war. Wenn sie durch die Flure der Cardea ging, stellte sie sich vor, wie sie herumlaufen, mit den Zähnen Drahtseile knacken, die Kehlen der Leute und auch den Weihnachtsschmuck zerfetzen würde, all die Rentiere aus Filz, die Tannenzweige, roten Sterne, weißen Wolken und goldenen Engel. Ein paar Filzfiguren hatte Beate selbst in der Ergotherapie gebastelt.
In der Ecke des Aufenthaltsraumes stand ein Christbaum mit elektrischen Lichtern. Einige Patienten hatten sich schon beschwert, weil er ihnen Platz wegnahm. Sie mussten mit ihren Sesseln nah bei den Fahrstühlen sitzen und jedes Mal zurückweichen, wenn zwei Pfleger ein Bett aus dem Fahrstuhl schoben oder wenn der Heizwagen mit dem Essen gebracht wurde. Der Flur der 5B war voller Betten, weil alle Zimmer belegt waren, und im Raucherraum war oft kein Platz mehr frei, und immer wieder drangen Kassenpatienten aus dem fensterlosen Aufenthaltsraum in die Privatstation vor, setzten sich in den Wintergarten und schauten hinaus, in die Landschaft.
Meistens war es die alte Lotti, die eine der Schwestern herbeiklingelte. Sie war schon über achtzig und seit Oktober hier.
»Die armen Leute haben sich verlaufen«, sagte sie. »Bitte kümmern Sie sich darum. Nicht, dass sie auf der B vermisst werden.«
Die Schwester tat, was sie verlangte. »Der Wintergarten ist nur für Privatpatienten!«, rief sie. Die Kassenpatienten erwiderten nichts, sie verschwanden, einer nach dem anderen, mit gesenkten Köpfen.
Zu den Privatpatienten sagte die Schwester: »Nach Weihnachten ist der Spuk vorbei. Es ist jedes Jahr das Gleiche, vor Weihnachten drehen alle durch.«
»Ich wollte doch nur, dass Sie auf der B Bescheid geben«, sagte Lotti, »nicht, dass Sie diese armen Leute wegschicken. Sie sollen sich doch auch ein wenig an der schönen Aussicht hier erfreuen.«
»Ach, Frau Kaleschke«, sagte die Schwester. »Sie mit Ihrer Gerechtigkeit. Sie müssen endlich mal an sich selber denken.«
Beate stand auf. »Ich muss eine rauchen.«
»Aber Kindchen«, sagte Lotti ganz leise und wurde rot. »Das ist so ungesund für dich, du bist ja so dünn. Und diese armen Kreaturen im Raucherraum, die machen dir doch Angst.«
»Aber was soll ich denn sonst tun als rauchen?«
Heiligabend feierten alle Patienten im Aufenthaltsraum, an drei langen Tafeln mit roten Tischdecken. Der Raum war gleißend hell, die Halogenlampen, die ringförmig die Dachfenster umliefen, waren eingeschaltet, auch die Wandleuchten. Auf den Tischen standen hohe Gläser, in denen Teelichter brannten. Bei näherem Hinsehen erkannte Beate, dass es in Wahrheit keine Kerzen waren, sondern weiße Batterien mit flackernden Glühbirnen. Jemand hatte den CD-Rekorder mit den Weihnachtsliedern abgestellt, weil einige Patienten sich dadurch irritiert fühlten. Jetzt war nur noch das Surren der Lüftung, das Rappeln des Fahrstuhls zu hören und dessen Gong, wenn er sich öffnete. Beate drehte sich jedes Mal um, und ein paarmal glaubte sie, ihre Tochter zu erkennen. Aber dann war es immer jemand anders.
Es gab Gänsebraten mit Rotkohl, Apfelkompott und Klößen. Pfleger Carsten verteilte das Essen. Die Fleischstücke, Brüste und Keulen, waren klein, die Haut war aufgeweicht und wellte sich, aber jeder wollte eins haben, jeder stellte sich in der Schlange vor dem Wagen an und wartete, bis der Pfleger ihm auftat. Heute mussten auch die Privatpatienten Schlange vor dem Essenswagen stehen, normalerweise wurde ihnen das Essen aufs Zimmer gebracht.
»Bitte kein Fleisch«, sagte Beate. »Das machen meine Zähne nicht mit.«
Pfleger Carsten war rotgesichtig, blond und schüchtern. Statt zu nicken, schob er mehrmals den Kopf vor. Der Teller war heiß, sie trug ihn schnell zum Tisch. Am Kopfende hatten sich die Patienten der ersten Klasse versammelt. Beate setzte sich zwischen den dementen Friedrich und die junge Annika mit den vielen Wunden und Narben auf den Armen.
»Möchtest du mein Stück Fleisch haben?«, fragte Beate. »Du kannst es bei
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