Teufelsberg: Roman (German Edition)
Nachbarn trug, in einem bunten Bündel aus Mädchen, und wie sie sich nicht mehr bewegen konnte.
»Ich dachte, der will mich in einen Käfig stecken«, schloss sie ihren Bericht. »Ich wollte nie wieder nach Haselau. Aber mein Vater nahm mich immer wieder mit. Als ich zwanzig war, ist mein Vater gestorben.«
»Das hatte er davon«, sagte Lou. »Übrigens war ich auch in so einem Käfig. Meine Hände sind Hühnerklauen, die haben sich an die Stange geklammert, jahrelang. Ich habe in der Dunkelheit gelebt. Bevor ich Lou Reed wurde. Lou Reed ist Stadtmensch, der hat keine Hühner.«
Eine Frau auf der anderen Seite des Raumes begann zu lachen. Ihr fehlte ein Schneidezahn, und eine verkrustete Naht zog sich quer über ihre Stirn, die grünen Fäden stachen aus der Wunde, Spitzen einer Hecke.
»Ihr seid alle so was von bekloppt.«
»Schon, aber du doch auch«, entgegnete Eugen.
»Wisst ihr was?«, fragte die Frau mit der Narbe. »Wenn der Raucherraum nicht wäre, hätte der Aufenthaltsraum eine Aussicht. In der ganzen Cardea herrscht Rauchverbot. Nur wir Verrückten, wir dürfen hier rauchen. Damit wir nicht noch verrückter werden. Dabei ist Rauchen so ungesund. Aber unsere Gesundheit zählt ja nicht.«
»Wieso zählt die nicht?« Eugen, der die ganze Zeit umhergetrippelt war, blieb stehen.
»Weil wir der Müll der Stadt sind«, sagte die Frau mit der Narbe. »Wir sitzen ja auch drauf auf dem Müll der Stadt, auf dem Kriegsschutt, wir sind die Spitze des Müllbergs. Soll ich mal was erzählen? Mit vierzehn wollte ich mich umbringen. Pulsaderschnitt, aber quer, mit dem Kartoffelmesser. Geht meine Mutter los, kauft ein Rasiermesser, legt es mir hin und sagt: Längs musst du schneiden. Und tief. Ich halte deine Hand fest, damit du nicht abrutschst.«
Die wilde Kapusta stieß einen bellenden Laut aus, verschluckte sich, hustete, begann noch mal zu lachen und konnte nicht mehr aufhören.
Mit der Zeit erzählten alle Raucher der Station, wenn Lou Reed dabei war, ihren Kummer. Oft saß Beate noch lange da, auch wenn sie nicht mehr rauchen wollte, und hörte dem Gemurmel zu, einem unablässigen Strom.
Als Anfang Dezember in der Cardea der Weihnachtsschmuck aufgehängt wurde, ging es ihr schlechter. An einem Morgen glaubte sie, man hätte ihr nachts die Zahnimplantate ausgetauscht, sie fühlten sich größer und kälter an. Sie fühlten sich an wie Stahlzähne, wie die Zähne von Richard Kiel, dem Beißer aus dem alten James-Bond-Film.
Aber das kann ja nicht sein, dachte sie und kontrollierte ihr Gebiss im Spiegel. Es sah aus wie immer.
Der Beißer war in ihr Leben getreten, nachdem ihr Vater gestorben war. Von da an schlief sie bei ihrer Mutter im Ehebett, auf seiner Seite. Tief in der Nacht schrak Beate aus dem Schlaf, sie hörte die eigenen Zähne knacken und noch ein anderes Geräusch, ein mechanisches Blöken. Sie sah sich um und erkannte im Dunkeln die große Flamenco-Puppe im roten Rüschenkleid, die in der Mitte zwischen den Kopfkissen saß, die Eltern hatten sie aus einem Spanienurlaub mitgebracht. Ihre Glasaugen glänzten, und ohne dass die Puppe sich bewegte, blökte es tief in ihrer Brust. Erschrocken schlug Beate nach der Puppe, sie kippte zur Seite, aber das Blöken war immer noch da, und erst nach einer Weile merkte Beate, dass das Geräusch nicht von der Puppe, sondern von der Mutter kam. Sie hatte sich Beate zugewandt und weinte sie an, mit offenen Augen und offenem Mund.
Beate schämte sich. Die Öffnungen im Gesicht der Mutter erschienen ihr obszön. Beate wollte schreien: »Hör auf!«, stattdessen biss sie die Zähne zusammen.
Morgens blickte sie lange in den alten Frisierspiegel. Sie sah eine junge Frau, die aussah wie vierzehn. Dabei war sie schon zwanzig. Wenn sie die Flügel des Spiegels aufeinander zubewegte, entstand ein helles Labyrinth. Sie konnte in jede Richtung schauen, immer tiefer hinein, und jedes der Bilder gehörte zu ihr. Und trotzdem war etwas Fremdes in ihrem Gesicht, im Spiegel, etwas Grobes, nicht Menschliches, das plötzlich beanspruchte, sie zu sein, Beate Hofstedt aus Pinneberg. »Wer bist du?«, fragte sie und sah den eigenen Mund, der antwortete: »Erst in die Zähne, dann in die Mähne! Ich bin der Fremde, der in dich kriecht.«
»Aber ich will nicht du sein«, sagte Beate.
»So? Und wer willst du sein?«, entgegnete der Beißer.
Darauf wusste Beate keine Antwort. Von da an sah sie weg, sobald der Beißer im Spiegel erschien. An manchen Tagen konnte sie sich nicht
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