Teufelsberg: Roman (German Edition)
schemenhaft erkennen. Sofort steckte sie sich eine Zigarette in den Mund. Der Filter stieß an das Zahnimplantat, Beate zuckte zusammen. Sie hatte seit einem Jahr Implantate, aber sie konnte sich nicht an sie gewöhnen.
»Hallo«, rief Lou mit ihrer bröckeligen Stimme in den Raum hinein, »ich bin Lou Reed, der Raucherraum-Rockstar. Wetzt die Gitarren. Stimmt die Stimmen. Was habt ihr alle auf dem Herzen?«
Lou Reed schlug auf der einzigen Saite der Gitarre einen dunklen Ton an, immer wieder. Das Gemurmel im Raucherraum verebbte, bald war außer dem Gitarrenton nur noch ab und zu ein Aus- und Einatmen zu hören.
»Ich will mir die Haare färben«, begann eine junge Frau.
Beate erkannte die Kapusta. Sie war am längsten von allen hier, tanzte und sang den ganzen Tag. Wenn sie lachte, klang es wie Bellen. Sie zog sich mehrmals täglich um. Sie roch nach Schweiß und nach Baumwolle, die zu lange nass im Korb gelegen hatte, und ständig lief sie davon. Alle nannten sie die wilde Kapusta.
»Und ich habe Stimmen im Kopf«, fuhr sie fort. »Die sind superlieb. Ich will so werden wie die. Manchmal sehe ich die Stimmen, kleine, weiche Hügel. Ich will, dass sie immer bei mir bleiben. Ich kriege Schmelztabletten, aber ich trockne mir vorher die Zunge, und im Bad spucke ich die Tablette aus.«
Eugen, ein Polizist in Frührente, der nur noch mit Trippelschritten ging, kippte das Fenster. Langsam wurden die Narben zwischen den Betonplatten sichtbar. Eugen trug wie immer seine beigefarbene Strickjacke mit dem Muster aus braunen Quadraten und Streifen.
»Was mich betrifft«, sagte er in seinem Berliner Tonfall, »habe ich alles schon durch. Tabletten nehme ich seit zwanzig Jahren. Jetzt kriege ich EKT.«
»Elektroschocks?« Lou machte mit der freien Hand Bewegungen, als würde sie Stromschläge bekommen. Mit der anderen Hand spielte sie weiter den dunklen Ton.
»So ist es«, antwortete Eugen. »Und seitdem ist alles so leicht. Nicht schlimm, aber auch nicht heiter. So leicht, so weit weg.«
»And I said, oh, oh, oh, oh, oh, oh, what a feeling!«, sang Lou.
»Von wegen ›feeling‹«, seufzte Eugen, »ich spüre ja gar nichts … Ich schlafe ein, die bringen mich weg, und wenn ich aufwache, bin ich zurück im Vierbettzimmer und weiß nichts und erkenne niemanden. Aber das geht ja vorbei. Meine Frau hat zuerst geheult wie ein Schlosshund. Jetzt freut sie sich, dass es mir besser geht.«
Auf kleinen Tischen standen Tonaschenbecher aus der Ergotherapie, alle dunkelrot glasiert und voller Kippen. Manche Becher trugen tiefe Fingerabdrücke, andere hatten schmale Ränder aus geflochtenen Tonsträngen.
Eugen drückte seine Zigarette aus, die Restglut entfachte einen Filter, er qualmte scharf auf. »Habt ihr schon mal vom Fliegen geträumt?«, fragte er.
Alle nickten.
»Die Träume vom Fliegen sind ja die schönsten. Man steigt auf und sieht unten die Landschaft, die Häuser, die Straßen. Die Menschen winken. Als ich jung war, habe ich das oft geträumt. Aber nun ist es umgekehrt. Mir fliegt die Welt weg, und ich bleibe hier. Die Welt ist so leicht … und alles, alles nimmt sie mit.«
Er zündete sich die nächste Zigarette an, zeitgleich mit Beate.
»Und was ist mit dir?«, wandte Lou sich an sie. »Schwere Kindheit? Missbraucht? Verdroschen? Ausgesetzt? Sad song, sad song?«
»Nein«, sagte Beate. »Meine Kindheit war okay. Ich hatte nur Angst vor meinem Onkel. Er wohnte in Haselau an der Elbe.«
Während sie den Rauch inhalierte, stieg ihr die Erinnerung an den Geruch nach Raps und grünem Wasser in die Nase. Die Kirchenglocke in ihrem grauen Holzturm klang weit über das Land.
»Mein Onkel hatte Hühner«, erzählte Beate, »die flatterten und kreischten, wenn er nach ihnen griff. Er wollte sie im Dorf verkaufen. Er packte drei, vier Stück an den Beinen und riss sie hoch.«
Die Hühner waren braungefiederte Tiere mit den Gesichtern alter Frauen. Beate erinnerte sich daran, wie sie, kopfüber hängend, plötzlich still wurden. Die Füße ragten wie vertrocknete Sträuße aus den Fäusten des Onkels. Auch Beate sollte eins der Hühner tragen. Sie hatte Angst, dass der rote Kehllappen des Huhns ihr nacktes Bein berühren würde, aber der Onkel drückte ihr das Tier in die Hand.
»Wenn du es loslässt, verkaufe ich dich stattdessen«, sagte er.
Die Beine des Huhns waren schuppig und warm, die Krallen berührten Beates Handgelenk. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst und den Onkel, wie er sie kopfüber zum
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