Teufelsberg: Roman (German Edition)
Schlüssel so schwer wie die Tasche.
»Jede Frau zerschmeißt mal Geschirr«, sagte er.
Dann stieg er in seinen Opel Caravan und fuhr zu seinen Patienten auf die Dörfer.
Die Villa, in der Bernd Vosskamp aufgewachsen war, hatte einen Garten voller Brennnesseln. Darin lag ein verrosteter Pflug, er diente Bernd als Forschungsschiff. Um dorthin zu gelangen, musste er durch die Brennnesseln gehen. Cornelia hatte ihm mit der Sense eine Schneise geschnitten, trotzdem berührten die Nesseln seine nackten Arme und Beine, wenn er nicht achtgab. Die roten Pusteln auf seiner Haut ähnelten den Raufaserflecken, und er fragte sich, ob sie durch die Haut nach innen schauen konnten, so wie die Raufaserflecken durch die Wand ins Bad.
Neben dem Pflug stand ein Kirschbaum, ein Segelmast, Bernd kletterte hinauf und spähte aufs Festland. Die Kirschen waren sauer. Er aß sie trotzdem und spuckte die Kerne, an denen noch rote Fruchtfleischfetzen hingen, so weit er konnte, in die Luft. Einige blieben auf den gezackten Blättern der Brennnesseln liegen, am nächsten Tag waren sie schwarz. Um den Kirschbaum ringelte sich dunkle Rinde, manchmal zog Bernd einen Streifen ab und benutzte ihn als Seekarte, während das entblößte Holz zu harzen begann. Die Villa der Vosskamps war eine Felseninsel im Meer, und so sehr Bernd mit seinem Fernrohr, einem Ast, auch spähte, konnte er doch kein Leben erkennen, weder Menschen noch Tiere, nicht einmal Seevögel. Wahrscheinlich war die Insel radioaktiv verseucht. Bernd schaltete den Geigerzähler ein. »Ticktickticktick«, machte seine Zunge am Gaumen.
Das Haus roch nach feuchten Steinen und Zigarren. Die Türrahmen waren mit dunkelbrauner Ölfarbe gestrichen, die Teppiche schwer. Es gab ein Wohnzimmer mit grünen Samtsesseln und vergilbten Gardinen und eine Küche mit gesprenkeltem Estrich. Cornelia hatte dort gestanden, barfuß zwischen den geblümten Scherben, die Küche war eine Wiese mit scharfen Kanten, und Cornelias Blick war zerschnitten, und jetzt war sie fort.
Der Pritschenwagen beschleunigte, nasse Schneeflocken klatschten an die Windschutzscheibe, das Surren auf der Ladefläche ging in ein Peitschen über. Der Draht an seiner Kehle würgte ihn.
Ich hätte ein anderes Leben führen müssen, wie Cornelia, dachte Vosskamp, eins voller Leid und Wahrheit. Aber im Angesicht der schwirrenden, wirren Flocken war es egal, welches Leben er hinter sich hatte, ein richtiges oder ein falsches. Und auch für Cornelia würde es schließlich egal sein, für jeden Menschen, auch für den besten. Es gab keine Ordnung in den Flocken, keine Festigkeit, keine Unterschiede, es schneite alles herunter und löste sich auf, das Gute und Böse, Schöne und Hässliche, Oberflächliche und Tiefe, und alles war eintönig und matt. Die Erinnerung an seine Kindheit war Zeitverschwendung, obwohl sie so schnell vorbeigerast war. Er hätte in diesen Sekunden auch etwas anderes denken können, es war alles beliebig. Er wollte den Tod, nicht mehr, um seinem gescheiterten Leben und der Blamage zu entkommen, sondern der Beliebigkeit.
Jetzt müsste es passieren, dachte er. Jetzt! Ich möchte doch irgendetwas haben, dachte er, irgendetwas. Ich bitte ja nicht mal um Gnade, ich bitte nur um die Schuld.
Aber es gab nichts, und in seinem Entsetzen schwamm Vosskamp tief in die körnige Fläche hinein.
Das Jetzt war schon immer da gewesen, schon damals, seit der Zeit im Sauerkirschbaum. Trotzdem hatte es nichts damit zu tun. Es trennte nicht nur den Kopf vom Körper, es trennte auch die Zeit vom Sinn und das Sein vom Machen, es trennte alles von allem. Das Jetzt war eine Schleuse, nicht nur in seiner aufgerissenen Kehle, sondern auch in der Gegenwart, die Schleuse öffnete sich immer weiter und verwandelte ihn. Er sah, dass es keine Linderung gab, aber er sah im Licht der Laternen die Birkenblätter blinken, die der Herbst an den Zweigen vergessen hatte, und die Schneeflocken überall, feine Stigmata der Luft.
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