Teufelsberg: Roman (German Edition)
»Ach, nein.«
»Sie haben eine Tochter großgezogen und eine Scheidung bewältigt. Da werden Sie das hier doch auch in den Griff kriegen, oder?«
Jetzt lächelte Beate etwas.
Vosskamp wippte in seinem Sessel vor und zurück. Es war ein tiefer, schwarzer Ledersessel auf einer Art Drehteller mit Kugellager. Als Vosskamp die Beine übereinanderschlug, sah Beate seine Schuhsohlen, Gummisohlen mit breiten Rillen.
»Vielleicht will Ihnen der Beißer etwas mitteilen«, überlegte er. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was das sein könnte?«
Beates Lippen zitterten.
Er sah sie an, seine Stimme wurde weicher. »Ihre Tochter ist vor neun Wochen ausgezogen, nicht wahr?«
»Sie hat mich hier nicht besucht, noch nicht mal an Weihnachten«, flüsterte Beate. »Und dabei wohnt sie doch jetzt in Berlin. Ich habe ihr wirklich Zeit gegeben, aber als ich sie neulich auf dem Handy angerufen habe, hat sie mich weggedrückt. Dabei habe ich alles für sie getan. Die Dachetage in unserem Haus in Schwetzingen hatte sie ganz für sich allein, drei Zimmer mit Bad. Und im Fitnessclub hatten wir eine Partnership Gold Card. Zu ihrem Zwanzigsten bekam sie ein Auto, einen Fox. Nur ein Pferd konnte sie nie haben, sie hat Asthma, aber dafür kann ich ja nichts. Ich habe doch sonst niemanden. Meine Bekannten haben mir keine Karte geschickt, als ich zusammengebrochen bin. Nicht einmal eine SMS. Die sind einfach ohne mich nach Italien gefahren, in ein Golfhotel auf Sizilien. Golf Club Gattopardo hieß das.«
Vosskamp zog die Stirn in Falten. Die Falten hörten an der Stelle auf, wo die Stirnglatze begann. Beate sah auf den roten Sekundenzeiger des Weckers auf dem Sofatischchen, der sein rundes Revier markierte, immer wieder von vorn, als würde es jemand ihm streitig machen.
»Seit der Beißer zurück ist«, hub sie wieder an, »habe ich auch immer so brutale Gedanken. Dass ich anderen was antun könnte. Sie kaputtbeißen oder so etwas. Ich weiß, das klingt dumm. Aber es quält mich.«
»Ja, solche Gedanken sind ganz typisch bei Zwangsstörungen, wie Sie eine haben«, sagte Vosskamp. »Ich sehe da keine reale Gefahr. Machen Sie sich keine Sorgen. Schauen Sie mal, den Lorazepamentzug haben wir schon geschafft, und das Doxepin wirkt ja auch schon. Vielleicht sollten wir die Dosis erhöhen.«
»Der Beißer hat mir schon damals solche Angst gemacht«, sagte Beate, »mit seinem Stahlgebiss. Alle haben mich deshalb ausgelacht. Ich war ja schon zwanzig, als der Film rauskam. Siebenundsiebzig war das. Das Jahr, in dem auch mein Vater starb. Das war schwer für uns. Mama hat nur noch geweint. Von da an musste ich immer bei ihr sein.«
Vosskamp sah ihr in die Augen. Seine Augen waren wasserblau, das Weiße darin war von roten Adern durchzogen.
»Warum sind Sie nach Berlin gekommen?«, fragte er. »Sie hätten doch in Mannheim ans ZI gehen können. Oder an die Stuttgarter Sonnenbergklinik. Auch die behandeln Zwang und Sucht. Aber Sie haben die Cardea gewählt.«
»Ja, damit ich in der Nähe meiner Tochter bin«, sagte Beate. »Damit ich Weihnachten nicht so allein bin. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mich nicht einmal anrufen würde.«
»Und seither haben Sie Zähne aus Stahl. Sehen Sie den Zusammenhang?«
»Ich weiß nicht. Ich muss auf einmal so sehr an meinen Vater denken.«
»Ja, der Tod Ihres Vaters war der erste große Stressfaktor in Ihrem Leben, der Auszug Ihrer Tochter der zweite. Aber Ihre Tochter ist nicht gestorben, Frau Hofstedt. Sie ist nur erwachsen geworden. Und Sie müssen sie gehen lassen.«
»Aber warum eigentlich?«, flüsterte Beate. »Wer hat sich das ausgedacht, dass Kinder sich abgrenzen und Eltern sie gehen lassen müssen? Gute Eltern müssen doch da sein für ihre Kinder, immer. Vielleicht hat jemand meine Tochter manipuliert. Vielleicht nimmt sie Drogen oder ist in einer Sekte. Aber daran denkt hier keiner. Alle halten mich automatisch für eine übergriffige Glucke.«
Sie zupfte ein Kleenex aus der Schachtel, die neben dem Wecker auf dem Sofatischchen stand, hob ihre große, weißgerahmte Brille an und betupfte die Augen. Als sie das Tuch betrachtete, war es voll brauner Make-up-Flecken.
»Was sind denn das für Zeiten«, fragte sie, »in denen man nicht mehr lieben darf?«
»Auf jeden Fall werden wir das Zahnproblem medizinisch abklären lassen«, sagte Vosskamp. »Nicht, dass wir da was übersehen. Ich schreibe ein Konsilium für den Kieferchirurgen.«
Vosskamp machte sich ein paar Notizen,
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