Teufelsberg: Roman (German Edition)
Pfleger Carsten abholen.«
Annika schüttelte den Kopf. »Diese Warteschlange«, sagte sie, »die ist so trostlos – wie im Waisenhaus von Oliver Twist. Man möchte gar nicht dazugehören.«
Sie aß weiter.
»Sind wir noch auf dem Schiff?«, fragte Friedrich. Er war klein und zierlich, hatte dichtes, kurzgeschnittenes weißes Haar und einen Schnurrbart.
»Wir sind im Waisenhaus«, murmelte Annika.
»Du hast Fantasie«, mischte sich Xaver ins Gespräch, der ihnen gegenübersaß. Er hatte die langen, knochigen Gliedmaße und die hageren Gesichtszüge eines Alpenmenschen, er war neu auf der 5A. »Du liest das Leben wie ein Buch, Annika.«
»Wie ein Buch?«
»Wie Oliver Twist.«
»Ein trauriges Buch«, sagte Annika.
»Oliver Twist hatte niemanden mehr«, ergänzte Beate.
»Das Buch bannt die Traurigkeit zwischen den Seiten«, sagte Xaver. »Schließt du das Buch, dann schließt du ab mit der Traurigkeit. Der Held ist zugleich eine Christusfigur. Er nimmt etwas auf sich und wird, indem er gelesen wird, hingerichtet. Er reißt die Schmerzen und die Sünden des Lesers mit in den Tod und befreit ihn so.«
»Oliver Twist wird nicht hingerichtet«, sagte Beate. »Er findet ein Zuhause und wird glücklich.«
»Versteh doch«, rief Xaver und beugte sich so weit vor, dass seine Brust die abgenagten Gänseknochen berührte, »wenn du ausgelesen hast, ist die Figur tot. Auch wenn sie innerhalb der Geschichte nicht stirbt, geht doch ihr Leben danach nicht weiter. Gar nichts geht weiter, wenn du nicht liest!«
»Dein Pullover hängt im Essen«, sagte Beate.
In ihrem Kiefer begann eine fremdartige Energie zu vibrieren, sie strahlte bis in die Wangenknochen aus. Beate spürte eine Verbindung aus unsichtbaren Kabeln zwischen sich und Xaver. Durch die Kabel kam etwas angesurrt.
»Meine Güte, das ist doch egal«, rief Xaver, eine Ader in der zerknitterten Haut unter dem rechten Auge schwoll an. »Es geht um den Sinn des Lesens! Wie kannst du nur so oberflächlich sein?«
Seine großen Hände lagen neben dem Teller, er krallte die Finger rhythmisch zusammen und zerrte dabei mit den Fingerkuppen am roten Tischtuch. Er sah Beate mit schwarzen Augen an.
Ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Reg dich mal ab«, sagte Annika zu Xaver. »Beate wollte doch nur sagen, dass es Oliver Twist am Ende gut geht. Dadurch wird die Traurigkeit besiegt, nicht dadurch, dass das Buch zu Ende ist.«
Beate nickte vorsichtig. Ihre Kieferknochen drohten aufzusprengen, weil die Zähne immer größer wurden.
»Ihr versteht das nicht, warum versteht ihr mich nicht?«, schrie Xaver. Aus seinem zurückgekämmten Haar lösten sich mehrere kurze Strähnen, rutschten nach vorn und blieben wie kleine schwarze Antennen in der Luft stehen. »Ihr müsst abstrakter denken! Es geht nicht um die Story, es geht um das Prinzip. Es geht um das Vergessen des Schmerzes, und zwar um ein ritualisiertes Vergessen.«
»Bitte schrei doch nicht so«, sagte Beate leise, obwohl sie sich vor Xaver fürchtete. Aber je lauter er schrie, umso stärker wurde das Surren in den Kabeln zwischen ihm und ihr, und umso metallischer wurden ihre Zähne. Ihre Zunge stieß gegen spiegelglatte Monolithe.
»Und was bedeutet das für die Psychotherapie? Was bedeutet das?«, schrie Xaver. »Der Patient erzählt seine Geschichte, der Therapeut liest den Patienten, er liest ihn wie ein offenes Buch, und darum bringt er ihn letztendlich um. Und was bedeutet das für die Cardea? Was bedeutet das für uns? Wir alle hier sind dem Tode geweiht!«
»Und Oliver Twist?«, fragte Beate.
»Verdammt noch mal, du geistlose Pute!«, brüllte Xaver. »Kannst du denn nichts anderes mit deinem Kopf anfangen als dir Föhnspray in dein blondiertes graues Haar zu knallen? Wenn du wüsstest, wie billig das aussieht!«
Während der gesamten Szene hatte keiner der anderen hingesehen, manche waren aufgestanden, um sich erneut vor dem Essenswagen anzustellen. Nun kam Pfleger Carsten herbeigeeilt.
»Sie müssen still sein, oder Sie gehen auf Ihr Zimmer«, sagte er zu Xaver. Dabei ballte er die Fäuste und zog zugleich die Schultern hoch.
Xaver lachte. »Ich werde bestraft, weil diese klimakterische Trockenfotze meine Theorie nicht versteht? Warum wird nicht sie auf ihr Zimmer geschickt und muss ohne Nachtisch ins Bett?«
»Schluss jetzt«, sagte Pfleger Carsten, »ich gebe Ihnen wohl besser Bedarf.«
»Du darfst hier gar nichts verordnen, du Hilfspflegerhirsl!«
Xaver sprang auf und verließ den
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