Teufelsberg: Roman (German Edition)
Aufenthaltsraum, trat beim Hinausgehen gegen die Wand, wo ein schwarzer Abrieb zurückblieb.
»Bitte nehmen Sie das nicht persönlich«, sagte der Pfleger zu Beate. »Es ist seine Krankheit, er meint es nicht so. Eigentlich ist er ein ganz Lieber. Hinterher tut es ihm immer leid.«
Beate begann zu weinen. »Mir geht es auch schlecht. Aber ich schreie nicht die Leute an und beleidige sie auch nicht.«
»Sind wir noch auf dem Schiff?«, fragte Friedrich. In seinem weißen Schnurrbart hingen Rotkohlfäden.
Nein, dachte Beate, wir sind untergegangen, wir sind im arktischen Meer versunken, und alle haben uns vergessen. Sie blickte nach oben. Die runden Fenster waren Eislöcher. Und an jedem Loch stand ein Eskimo und wartete mit seinem Speer.
»Ich werde verrückt«, schluchzte sie.
»Nein, Sie sind nur erregt«, sagte Pfleger Carsten. »Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer, und der Bereitschaftsarzt kommt noch vorbei.«
»Ich muss eine rauchen«, stieß sie hervor.
»Nein, das machen wir später.«
Als der Bereitschaftsarzt zu ihr ins Zimmer kam, flehte sie ihn an: »Bitte lassen Sie mich eine rauchen!«
Sie bebte am ganzen Körper und merkte dabei selbst, wie dünn er war, eine Flocke, die leicht in jedem Lufthauch hing. Sie klammerte sich an der Stuhllehne fest, damit ihr Körper nicht runterglitt.
»Sie können nicht wieder raus zu den Leuten«, sagte der Bereitschaftsarzt. »Sie müssen sich beruhigen.«
»Es wird doch alles wieder gut bei Oliver Twist? Was wird aus meinen Zähnen? Warum besucht mich meine Tochter nicht?« Den letzten Satz wiederholte sie immer wieder.
»Bitte geben Sie mir Lorazepam«, stammelte sie schließlich.
»Das dürfen Sie nicht mehr nehmen, Sie waren doch abhängig von Benzodiazepinen. Ich gebe Ihnen Promethazin, das beruhigt und macht nicht süchtig.«
»Aber ich muss eine rauchen!«
»Später, Frau Hofstedt.«
Beate schluckte die Tablette, der Bereitschaftsarzt führte sie zum Bett, sie legte sich hin. Dann ging er. Durch das Fenster sah sie die Sterne und den gelben Mond, einen nikotingetränkten Filter im Querschnitt. Und während eine fade Müdigkeit sie überkam, tanzte alles vor ihren Augen: Lou Reed und die entführten Mädchen im Hühnerstall, die wilde Kapusta, die Ader unter Xavers Auge, die Eskimos über der Weihnachtsfeier, die gelben Schwaden im Raucherzimmer, und von oben prasselten unaufhörlich ihre Zähne aufs Dach.
Drei Wochen später, am Montag, dem 17. Januar, hatte Beate ihre erste Stunde bei Vosskamp. Sie kannte ihn aus der wöchentlichen Chefarztvisite, aber die war immer nach wenigen Minuten vorbei, und heute hatte Beate fünfzig Minuten mit ihm ganz allein und für sich.
Vosskamps Büro lag im Nordturm, über dem Wintergarten. Durch eines der Fenster sah sie den Grunewald und in der Ferne die Stadt. Der Himmel war weiß und glatt.
»Ich habe so große Angst vor dem Zahnarzt«, erzählte sie. »Ich glaube, die Implantate stehen falsch, sie schieben mir den Kiefer vor, er wird aus dem Gelenk springen. Diese ganzen OPs, ich schaffe das nicht, ich muss dann nach Mannheim in die Klinik, und wer bringt mich nach der OP nach Hause? Tatjana, meine Tochter, lebt ja jetzt hier in Berlin und will sich abgrenzen, und meine Bekannten mag ich nicht fragen.«
Vosskamp schob die Lippen vor. Er war Anfang fünfzig, mittelgroß und bullig. Die feinen blonden Haare trug er zur Seite gescheitelt. Er hatte massige Wangen und kaum Falten im Gesicht. Die Nase war breit, am Sattel gekrümmt, und von ihren kräftigen Flügeln liefen gebogene Kerben bis zu den Mundwinkeln. Der Mund war klein und konturiert.
»Sie wollen immer so viel, Frau Hofstedt, immer gleich das große Ganze erledigen. Aber das müssen Sie nicht. Halten Sie es mit Bismarck. Die Politik der Geduld, der kleinen Schritte und des Abwartens. Damit können Sie nicht nur ein Reich zusammenfügen, sondern auch eine Seele.«
Beate holte tief Luft. »Mir ist das sehr peinlich«, gestand sie, »aber ich fühle mich wie Richard Kiel. Wissen Sie, wie der Beißer aus diesem alten James-Bond-Film, der mit den Stahlzähnen.«
Vosskamp lächelte. »Gut, dass Sie sich Ihren Humor bewahren.«
»Nein, ich fühle mich wirklich so. Es ist grauenvoll, diese Fremdkörper im Gesicht zu haben. Ich halte das nicht mehr aus.«
»Ja, das kann ich gut verstehen. Aber Sie sind nicht der Beißer.«
»Das weiß ich doch, Herr Professor.«
»Dann wissen Sie auch, dass Sie eine patente Frau sind?«
Beate zog die Schultern hoch.
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