Teufelsengel
Zug leer.
Dann war auch dieser Augenblick vorbei, und Calypso spürte, wie ihm der Wein zu Kopf stieg. Für jemanden, der Alkohol nicht gut vertrug, war Trinken ziemlich gefährlich.
Pia hatte den Abend in ihrem Zimmer verbracht, einem kleinen Raum, in dem nur wenige Möbel standen, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit einem Stuhl und ein Sessel. Es gab nur einen einzigen Luxusgegenstand und das war eine Tiffany-Lampe auf der Fensterbank. Sie spendete ein schönes, tröstliches Licht.
So sahen Gästezimmer aus.
Aber Pia fühlte sich nicht als Gast.
Und Vero war kein Gastgeber.
Sie nannte ihn in Gedanken immer bei seinem Vornamen. Obwohl es nicht sein richtiger war. Vero bedeutete wahr. Er hatte sich den Namen selbst gegeben.
Weil ich der Verkünder der Wahrheit bin.
Er wohnte in der Kirche.
In der Kirche!
Das Erzbistum Köln hatte beschlossen, sich von einigen Gotteshäusern zu trennen und sie auf dem freien Markt anzubieten. Sie wurden entsegnet und waren dann nicht länger Häuser Gottes.
In einer Kapelle in Marsdorf wurden jetzt sogar Gartenmöbel verkauft.
Pia verstand das nicht. Wie konnte man in einem Haus, das Gott zu Ehren erbaut worden war, Geschäfte treiben? Jesus hätte den Händler und die Kunden hinausgejagt, wie er das schon einmal getan hatte, damals, im Tempel in Jerusalem.
Am liebsten war es dem Bistum, wenn eine christliche Vereinigung eine solche Kirche erwarb. So wie in Veros Fall.
Schon damals hatte Vero hier, in dem zur Kirche gehörenden Kloster gelebt. Er hatte die Gemeinschaft bereits gegründet, und die ersten Gläubigen hatten sich um ihn versammelt, aber alles hatte sich noch mehr oder weniger im Entstehungsprozess befunden.
Die Getreuen.
Pia hatte oft über diesen Namen nachgedacht. Er war wie ein Krake, der seine Arme in sämtliche Richtungen streckte.
Der Name bedeutete, dass die Mitglieder der Gemeinschaft ihrem Glauben treu blieben.
Dass sie der Bruderschaft treu blieben.
Dass sie Vero als ihrem geistigen Führer treu blieben.
Vor allem aber, dass sie Gott treu blieben.
Ihren Glauben lebten wie echte Christen.
Wie unsere Brüder und Schwestern der Urzeit.
Der Name bedeutete, dass die Mitglieder der Gemeinschaft nach ihren Wurzeln suchten und ihr Handeln danach ausrichteten.
Wir brauchen keine Prunkbauten. Wir brauchen keinen Reichtum. Wir brauchen nicht die falschen Götzen dieser Zeit. Wir brauchen nichts als Gottes Wort.
Wenn Vero so etwas sagte, dann begriff Pia instinktiv, was er meinte. Später, wenn sie wieder allein war, eingebunden in ihren Alltag, waren die Definitionen nicht mehr so einfach.
Was genau waren die Götzen der Zeit?
Schöne Kleider? Gute Noten? Das Verlangen, beliebt zu sein? Das Streben nach Erfolg? Gesellschaftliches Ansehen?
Und der Reichtum, von dem Vero da sprach? Wo fing er an?
Schon bei einem Armband, einem Ring, einer Kette? Oder erst beim Auto der Luxusklasse? Einer Penthousewohnung hoch über den Dächern der Stadt?
Klar war ihr nur, was sich hinter Gottes Wort verbarg.
Gottes Wort konnte sie in der Bibel finden.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.
Pia hatte sich erst an die bildhafte Sprache gewöhnen müssen. Oft erreichten die Sätze eher ihr Gefühl als ihren Verstand. Und sie stellte fest, dass sie unterschiedlich ausgelegt werden konnten. Das verwirrte sie.
Trotzdem las sie die Geschichten in der Bibel gern.
Ging in ihnen spazieren.
Weg von hier. Weg von allem, was sie bedrückte.
Die Bibel war eines der wenigen Bücher, die sie noch besaß. Abgesehen von denen, die sie unbedingt für ihr Studium brauchte.
Konzentriere dich auf das Wesentliche.
Natürlich hatte Vero damit recht. Sie schwelgte zu gern in Romanen, versank mit wohligem Gruseln in Krimis und Psychothrillern. Deshalb hatte er ihr die meisten weggenommen.
Die paar, die übrig geblieben waren, reichten ihr nicht aus. Sie hatte einen Heißhunger auf Worte. Den hatte sie schon immer gehabt. Sie hatte sich das Lesen mit knapp vier Jahren selbst beigebracht und verschlang bereits Romane, als ihre Freundinnen sich noch an den ersten kurzen Geschichten versuchten.
Wenn sie ehrlich war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie sich inzwischen nach allem verzehrte, was von der Welt da draußen erzählte. In der sie nicht mehr zu Hause war, selbst wenn sie ihr Zimmer noch nicht gekündigt hatte. Der Welt, die sie nur noch hin und wieder besuchte.
Pia war müde. Sie lag im Bett, konnte sich jedoch nicht dazu
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