Teufelsengel
wollte er, dass Pias Wille gebrochen wurde?
Wie der von Sally.
Auch Sally hatte nicht dem Ideal eines gläubigen Menschen entsprochen. Auch sie hatte Veros Unwillen hervorgerufen. Sally, das wilde Mädchen mit den Blutergüssen an den Armen und den tiefen Schatten unter den Augen.
Sally hatte schon lange hier gelebt. Über ein Jahr.
Und jetzt war sie nicht mehr da.
Pia hatte nach ihr gefragt, obwohl das gegen die Regel verstieß. Doch niemand schien zu wissen, wo sie steckte. Es war, als hätte der Erdboden sie verschluckt.
Vielleicht wusste jemand, was mit ihr los war, aber dann wäre Pia bestimmt die Letzte gewesen, der man es anvertraut hätte. Sie war noch nicht so lange dabei wie die andern, half mal hier aus und mal dort, hatte noch keine festen Pflichten.
Pia zog sich die Bettdecke über den Kopf. Wie sie es als Kind getan hatte, wenn die Welt verschwinden sollte. Nur dass es nicht mehr funktionierte.
Da müsste man schon selbst verschwinden, dachte sie, und mit diesem Gedanken schlief sie ein, ohne vorher das Licht auszumachen. Der Schlaf hüllte sie in seine Schleier. Er pflanzte ihr Träume hinter die Stirn und ließ sie vergessen.
Sie fühlte nicht einmal mehr das Pochen in ihren aufgedunsenen, misshandelten Händen.
Es war mitten in der Nacht. Immer noch fielen vereinzelte, dünne Schneeflocken aus dem schwarzen Himmel. Es war vollkommen still.
Romy wusste kaum, wie sie hierher gekommen war.
Doch nun stand sie hier.
Sie schwor sich, beim nächsten Mal nicht mitzutrinken. Schon nach einem halben Glas Wein kippte sie aus den Latschen.
Ein Mietshaus von fünf Stockwerken. Eine der scheußlichen Bausünden aus der Nachkriegszeit, als das zerbombte Köln schnell wieder aufgebaut werden musste. Eingeschlossen von anderen Bausünden.
Kein Fenster erleuchtet. In der ganzen Straße nicht.
Romy trat auf den Hauseingang zu, stieg die drei Stufen hoch und beugte sich zu den Namensschildern neben den Klingelknöpfen. Aber sie konnte nichts entziffern.
Mist!
Sie durchwühlte ihre Taschen, obwohl sie wusste, dass es vergeblich war. Natürlich hatte sie kein Feuerzeug dabei und keine Streichhölzer, denn übers Gelegenheitsrauchen war sie nie hinausgekommen, und sie hatte auch nicht vor, richtig mit dem Rauchen anzufangen.
Eine Stimme störte die Nacht. Ein Lallen. Ein Johlen. Ein Lachen. Und dann ein Fluch.
Der Betrunkene kam aus der Dunkelheit. Er trat in den Lichtkreis der Laterne, schwankte und trank aus einer Flasche, die er dann mit großer Geste wegwarf. Sie zersprang klirrend. Das Geräusch hallte in der Nacht.
Romy hörte das Schlurren der Schuhe auf dem schneebestäubten Pflaster. Und das Singen des Betrunkenen, das erstaunlich leise war.
»Duuu wisseine grooosse Liiiebe. Diiir gööörtein gaasses Heees.«
Als er Romy erblickte, blieb er stehen.
»Sswei Fragen«, nuschelte er. »Wee bissu unwas masse hie?«
»Ich bin Romy«, sagte Romy und war froh, dass ihr Gehirn noch so weit funktionierte, dass sie ihren Namen nicht vergessen hatte. »Haben Sie ein Feuerzeug?«
»Abba jaaa.« Er fingerte ein Feuerzeug aus den Tiefen seiner Jacke und hielt es Romy hochkonzentriert hin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Der Schein der Flamme flackerte über die Namensschilder. Backer. Traute. Wiedmann... und da, ganz oben, Dorau.
»Vielen Dank.« Romy drehte sich nach dem Betrunkenen um. Doch der war schon weitergegangen. Er hielt sich kerzengerade und machte keinen Lärm.
Romy steckte das Feuerzeug ein. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war. Die Kontaktlinsen hatten sich an ihren zu trockenen Augäpfeln festgesaugt. Es war äußerst unangenehm. Zeitweilig sah sie alles wie durch trübes Glas.
Die Schritte des Betrunkenen verklangen in einem Nebel, der wahrscheinlich echt war und kein Ergebnis ihres Linsenproblems. Romy war plötzlich unbehaglich zumute.
Blödsinn, mitten in der Nacht hierher zu kommen, dachte sie. Immer noch wirbelte der Alkohol in ihrem Kopf herum. Sie stand nicht sicher auf ihren Füßen, und sie hatte den Eindruck zu schielen. Als hätten sich ihre Sehnerven ineinander verknotet.
Sie drehte sich um sich selbst und schaute sich um. Wie kam sie am besten nach Hause?
Romy entschied sich für eine Richtung, stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und marschierte los. Die Kälte brachte wieder Klarheit in ihren Kopf. Allerdings nicht so viel, dass sie sich an ihr Fahrrad erinnert hätte.
Erst als sie eine Stunde später den Schlüssel ins Schloss
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