Teufelsengel
durch.
Bruder Darius war durch seine Kutte geschützt. Vero konnte ihn verachten, er konnte angewidert auf ihn herabsehen, aber er würde ihn nicht verstoßen. Pia jedoch besaß keinen solchen Schutz. Wenn es Vero gefiel, konnte er sie wie eine lästige Fliege verscheuchen.
Pia schluckte. So sehr Vero sie auch in Angst und Schrecken versetzte, bei der Vorstellung, aus seiner Nähe verbannt zu werden, überkam sie das heulende Elend. Wie sollte sie leben ohne ihn? Ohne seinen Schutz und die Wahrhaftigkeit seiner Worte? Ohne seine Visionen und seine Kraft?
Verzeih mir, Vater …
Ich bin wieder da …
Bitte, Vater, hör mich an …
Oder sie warf sich ihm einfach zu Füßen. Ohne Worte. Ohne den Versuch, etwas zu erklären, das sie nicht erklären konnte.
Vater, ich weiß nicht, was mit mir los ist.
Es rauschte in ihren Ohren. Sie bekam keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Wie sollte sie Vero nur unter die Augen treten?
Sie wusste, welche Macht er hatte. Sie wusste, was er ihr antun konnte.
Hilf mir, Vater, ich habe gesündigt.
Aber hatte sie das denn überhaupt? Gesündigt?
War es Sünde, sein Gewissen zu befragen? Ab und zu gern allein zu sein? Um nachzudenken? Oder einfach nur so?
War es Sünde, wenn sie Freiheit brauchte? Denn die brauchte sie. Die Freiheit, sie selbst zu sein und nach ihrem Gewissen zu handeln.
IchIchIch, dachte Pia verzweifelt. Würde sie es denn nie lernen, demütig zu sein und ihr Ego zu vergessen?
Vater, deine Tochter ist zurückgekehrt und bittet dich um Gnade.
Ihre Schritte wurden langsamer. Sie konnte die Spitze des Kirchturms schon erkennen. Ihr wurde schlecht.
Vater, ich …
Kapitel 8
Schmuddelbuch, Donnerstag, 13. November
Wie konnte ich das tun? Ein Tagebuch stehlen. Noch dazu das Tagebuch einer Toten.
Ich störe die Totenruhe.
Warum? Um Alices Tod zu rächen? Ihren Mörder zu finden?
Wieso übergebe ich das Tagebuch dann nicht der Polizei?
Oder Alices Eltern?
Mach dir nichts vor, Romy. Du wirst das Tagebuch lesen, weil du eine Geschichte vor der Nase hast, nach der sich jeder Journalist die Finger lecken würde.
Beschämend.
Aber ich kann nicht mehr zurück …
Die Frau, die da auf dem unbequemen Stuhl saß und zum Fenster hinausschaute, zeigte mit keiner Regung, dass sie sein Eintreten bemerkt hatte. Bert blieb am Tisch stehen und hoffte, sie werde ihn ansehen.
Doch ihr Blick blieb scheinbar unbeteiligt auf die Kronen der Bäume gerichtet, die das Krankenhaus umschlossen, eine blattlose, bizarre Kulisse vor dem tiefhängenden Grau des Himmels.
»Mein Name ist Melzig«, begann Bert. »Kriminalpolizei. Frau Dorau, ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.«
Um den Mund der Frau zuckte es, kaum wahrnehmbar.
Es gab Tage, an denen Bert es bereute, Polizist geworden zu sein. Seufzend ließ er sich auf dem freien Stuhl nieder.
Man hatte Frau Dorau in einem Einbettzimmer untergebracht. Bisher hatte sie noch kein Wort von sich gegeben, nicht einmal den Schwestern und Ärzten gegenüber. Bert hatte wenig Hoffnung, dass es ausgerechnet ihm gelingen würde, ihr Schweigen zu brechen.
Sie atmete so flach, dass ihr Brustkorb sich kaum hob und senkte. Ihr Gesicht war grau und ausdruckslos. Auf ihren blassen, spröden Lippen hatte sich Schorf gebildet. Die Farbe ihrer Augen konnte Bert im Profil nicht erkennen.
»Ich bin schon so lange Polizist«, sagte er. »Aber ich werde mich niemals an den Tod gewöhnen.«
Draußen auf dem Flur ertönte das fröhliche Lachen eines Kindes, gefolgt von der belustigten Stimme eines Mannes. Wie weit war das vom Schmerz dieser Frau entfernt.
»Ich würde Sie so gern in Ruhe lassen, Frau Dorau, und Ihre Trauer nicht stören. Aber ich möchte herausfinden, wer Ihren Sohn getötet hat. Sie könnten mir dabei helfen.«
Sie blinzelte. Zwei dünne Tränen rollten über ihre Wangen.
Draußen vor dem Fenster war es unheimlich still.
Die Beerdigung würde morgen stattfinden. Die Ärzte hatten Bedenken, ihrer Patientin die Teilnahme zu gestatten. Bert fand es bedenklicher, sie ihr zu verweigern. Doch er hatte es sich längst abgewöhnt, den Ärzten Ratschläge zu erteilen.
Frau Dorau hatte ihren toten Sohn nicht gesehen. Ein Freund der Familie hatte ihn identifiziert. Das war nicht gut. Möglicherweise würde sie nun niemals wirklich glauben, dass ihr Sohn gestorben war.
Man musste verschiedene Stadien der Trauer durchlaufen, um den Tod eines geliebten Menschen annehmen zu können. Bert fragte sich, wie diese
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