Teufelsengel
Mörder schon vorher gemordet hat und danach wieder.«
»Die Polizei glaubt nicht an einen Serienmörder.«
»Nein.«
»Aber du bist schlauer.«
»Nein.« Allmählich ärgerte Romy sich über diesen Kerl. Sie versuchte, es nicht zu zeigen. »Aber ich vertraue meinen Instinkten. Und die haben sich selten geirrt.«
Er trank, setzte die Tasse ab und leckte sich die Lippen. Diese unschuldige Geste passte so gar nicht zu seinem aggressiven Verhalten.
»Warum hast du unserem Treffen zugestimmt?«, fragte Romy.
Tobias zuckte mit den Schultern.
»Ich habe so viele Fragen.« Romy hatte keine Alternative. Sie konnte versuchen, ein Gespräch anzukurbeln, oder aufstehen und gehen. »Zum Beispiel würde ich gern wissen, wie Alice gewesen ist.«
Lange saß er schweigend da. Romy machte sich schon darauf gefasst, dass er die ganze Geschichte abblasen würde, als er sich räusperte und zu reden begann.
»Alice im Wunderland. Das war sie. Ein Mädchen, das nicht in … das hier passte.« Er machte eine Bewegung mit den Händen, die das Café einschloss, die Gäste, die Straße draußen, die gesamte Stadt. »Alice war … anders. Sie war … zu gut, und wenn es noch so kitschig klingt. Ich hatte sie überhaupt nicht verdient.«
»Seid ihr glücklich gewesen?« Romy dachte an Alices Tagebuch. Unglücklich bin ich. Das vor allem.
Tobias senkte den Blick, und Romy spürte, dass sie einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ich begreife es heute noch nicht«, sagte er leise. »Sie hat von einem Tag auf den andern Schluss gemacht.«
»Aus welchem Grund?«
»Ich weiß es nicht!«
Er sagte das so laut, dass die Leute sich nach ihnen umdrehten. Romy wurde rot vor Verlegenheit und ärgerte sich darüber. Seit wann spielte die Meinung der Leute für sie eine Rolle?
»Sie trug eine Goldkette mit einem kleinen Kreuz«, sagte sie. »Anscheinend von Kindheit an.«
Tobias nickte. »Alice war gläubig. Sie ging jeden Sonntag in die Kirche. Mich hat das nicht gestört, auch wenn mir Religion nichts bedeutet. Alice war keins von den geistlosen Schafen, die sonntags aus Gewohnheit in die Kirche trotten. Sie lebte das richtig. Ich habe sie nie etwas Böses über irgendwen sagen hören.«
»Niemals?« Das konnte Romy von sich selbst nicht behaupten. Sie zog leidenschaftlich gern über andere her, am liebsten mit Björn, der ein begnadetes Klatschmaul war. Wie hatte Ingo in seinem Artikel über die Modebranche geschrieben? Klatsch und Tratsch sind das Salz in der Suppe.
»Nie. Nicht mal über ihre Mitschüler, und das Zusammensein mit denen war für sie wahrhaftig kein Zuckerschlecken.«
»Wieso?«
»Besondere Menschen erzeugen Neidgefühle.«
»Sie können ihre Umgebung aber auch faszinieren.«
Tobias lächelte. »Das passierte, wenn Alice tanzte. Aber in der Schule tanzt man leider nicht.«
Sie schwiegen eine Weile und betrachteten das Gewusel auf der Straße und an den Büchertischen hinter den Glasscheiben.
»Ich hab mir das Hirn zermartert«, brach Tobias unerwartet das Schweigen. »Mir fällt kein Grund ein, warum irgendwer den Wunsch gehabt haben sollte, Alice zu töten. Und dann noch auf diese bestialische Weise.«
»Kann es eine symbolische Bedeutung haben, dass er ihr die Kehle …« Romy brachte es nicht fertig, es auszusprechen. »Ich meine … wollte man sie vielleicht zum Schweigen bringen?«
Tobias sackte förmlich in sich zusammen. Er war ganz grau im Gesicht. »Ich hatte in letzter Zeit oft das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg«, sagte er so leise, dass Romy ihn kaum verstehen konnte. »Ich hab gedacht, sie hätte einen andern.«
Er hat mir die Sterne versprochen.
»Sie hat sich anders angezogen. Lauter dunkle Klamotten. Nicht von heute auf morgen, sondern so schleichend, dass es mir erst bewusst geworden ist, als es keine bunten Sachen mehr in ihrem Kleiderschrank gab. Sie hat auch aufgehört, sich zu schminken. Alice war nie der Typ Mädchen, der sich das Gesicht zugekleistert hat, aber sie benutzte nicht mal mehr Lippenstift. Als hätte ihr einer vorgeschrieben, wie sie sich zu verhalten hatte.«
Der geheimnisvolle Unbekannte, dachte Romy. Sie musste sich zusammenreißen, um ihre Aufregung nicht zu zeigen.
Ein Geheimnis.
Wie bei Thomas Dorau und Mona Fries.
Ich tu so, als gäb es dich gar nicht.
Alice hatte mit Tobias Schluss gemacht. Thomas Dorau hatte sich von Corinna getrennt. Mona Fries hatte sich von Andy zurückgezogen. Wie hatte Tobias das eben formuliert?
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