Teufelsengel
Als hätte ihr einer vorgeschrieben, wie sie sich zu verhalten hatte.
Und wenn da tatsächlich jemand war, der die Drehbücher schrieb? Der die Opfer wie Marionetten hatte tanzen lassen? Der dasselbe tödliche Spiel gerade mit jemand anderem trieb?
»Sie hat Angst gehabt«, hörte Romy Tobias erzählen. »Aber sie hat sich mir nicht anvertraut. Da bröckelte unsere Beziehung schon. Da war längst alles vorbei.«
Diese Angst in mir.
Ich kann das Entsetzen auf der Zunge schmecken.
»Manchmal konnte ich die Gänsehaut auf ihren Armen sehen. Hören, wie ihr der Atem stockte. Aber kein Wort. Nicht ein einziges. Wenn ich sie gefragt habe, was los ist, hat sie mich nur angesehen und geschwiegen.«
»Hast du eine Vermutung?«
Er schüttelte den Kopf. »Und das ist das Allerschlimmste für mich. Vielleicht hatte sie Angst vor ihrem Mörder. Und ich konnte ihr nicht helfen.«
Romy legte ihm die Hand auf den Arm. Tobias zuckte zusammen, zog den Arm jedoch nicht weg. »Dich trifft sicherlich keine Schuld.«
Erschüttert beobachtete sie, wie er anfing zu weinen. Sie blieb bei ihm sitzen. Still und reglos wie er.
Als Pia die Schritte auf dem Flur hörte, sprang sie auf, hob Snoop vom Bett, öffnete leise die Schranktür und setzte ihn in das Fach mit ihren Pullovern.
»Pschsch.« Sie strich ihm noch einmal über den struppigen Kopf. »Bleib schön hier drin. Und keinen Muckser, ja?«
Snoop, unsanft aus dem Tiefschlaf gerissen, rollte sich auf ihrem Lieblingspulli zusammen und schlief sofort wieder ein.
Vero kam herein und das Zimmer schrumpfte. Er sagte kein Wort. Pia versuchte, seinem Blick standzuhalten, doch das war ihr noch nie gelungen.
»Komm«, sagte Vero.
Durch die beginnende Dämmerung führte er sie über den Hof, ohne mit ihr zu sprechen, ohne sie zu berühren, fast so, als wäre sie gar nicht da.
Ihre Schuhsohlen machten auf dem alten Steinfußboden der Kirche kein Geräusch. Pia räusperte sich leise, nur um etwas zu hören.
Vor dem Altar blieb Vero stehen. Er hob den Kopf und schaute dem Gekreuzigten in die brechenden Augen.
»Lass uns beten«, sagte er und kniete sich hin.
Pia tat es ihm nach. Sie faltete die Hände vor der Brust und senkte den Kopf, um sich ins Gebet zu vertiefen. So knieten sie, bis Pia ihre Gliedmaßen nicht mehr spürte.
Bitte, lieber Gott, hilf mir, meine Strafe auszuhalten.
Doch insgeheim hoffte sie, dass dieses lange Knien und Beten ausreichen würde, um ihre Schuld auszulöschen.
Dass Vero sie nicht noch schlimmer strafen würde.
Sie warf einen vorsichtigen Blick auf sein Gesicht. Es war streng und verschlossen. Und sie wusste, sie würde nicht so einfach davonkommen.
Diesmal nicht.
Pia holte tief Luft. Sie hatte schreckliche Angst.
Kapitel 13
Schmuddelbuch, Samstag, 15. November
Ich kann nicht schlafen. Die Vorstellung, dass Cal woanders ist, hält mich wach. Der schwarze Himmel ist so klar, dass man jeden einzelnen Stern erkennen kann. Wie in Walt-Disney-Filmen, in denen die Sterne wie frisch geputzt über hübsch angemalten Häusern funkeln.
Alice hat oft in der Nacht geschrieben.
Ich liebe es, wenn alles rignsherum schläft und nur ich bin wach. Es ist dann, als hätte ich alles unter Kontrolle.
Dabei hatte Alice gar nichts unter Kontrolle. Alles schien ihr zu entgleiten.
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Alice, das ist bloß noch ein Name aus einer Geschichte, und das Wunderland hat sich in eine Mondlandschaft verwandelt, in der nichts gedeiht, in der alles farblos und kalt ist und tot.
Mindestens fünfmal habe ich mir die Aufnahmen der Gespräche angehört. Frau Kaufmann. Andy. Sylvia Kaster. Tobias Kamenz. Corinna Wagner.
Fünf Namen. Fünf Geschichten.
Vielleicht haben sie nichts miteinander zu tun.
Haben sie doch, sagt etwas in mir, ganz bestimmt.
Aber ich kann es nicht beweisen. Noch nicht.
Sie hatten die ganze Nacht gebetet. Seite an Seite. Einige Male hatte Vero gespürt, wie das Mädchen neben ihm schwankte, doch sie hatte sich von allein wieder gefangen.
Wie nah sie sich gewesen waren. Und wie weit voneinander entfernt. Denn es hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan. Vor Wochen schon.
Vero liebte alle, die ihm anvertraut waren. Doch die Irrgänger liebte er am meisten.
So nannte er sie.
Irrgänger.
Weil sie wie Irrlichter waren. Faszinierend und gefährlich. Sie konnten einen leicht in den Abgrund ziehen.
Die Irrgänger waren die ewig Suchenden, ewig Fragenden. Die Zweifelnden. Gott könnte sich ihnen in einer
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