Teufelsengel
Mörder hatte Mona von der Bank gezerrt und ins Unterholz geschleppt. Dort hatte er sie erdrosselt. Mit ihrem eigenen Halstuch.
Das war für Romy am schwersten zu verdauen.
Ihr eigenes Halstuch.
Romy schloss die Augen. Sie sah Füße, die über den Boden schleiften. Bestimmt hatte Mona die Absätze in den Boden gestemmt, vergebliche Linien in die Erde gepflügt. Einen Schuh verloren. Sich steif gemacht. Sich gewunden.
Hatte sie geschrien? Hatte irgendjemand sie gehört? Und den Schrei nicht ernstgenommen? Ihn für den Spaß junger Leuten gehalten und sich nicht weiter darum gekümmert?
Der Ausdruck in Monas Augen. Das Begreifen. Das Entsetzen.
Die Hilflosigkeit.
Ein Windstoß fegte über Romys Gesicht. Sie stolperte rückwärts. Keine Sekunde länger hielt sie es hier aus.
Ein gellender Pfiff.
»Rooomeo! Hiiierher!«
Romy sah einen aschefarbenen Hund über die Grasfläche jagen, hoch gewachsen und athletisch gebaut, nur Muskeln und Sehnen. Sein Herr, der ihm nachsetzte, war das exakte Gegenteil. Er machte kleine, plumpe Schritte und rang nach Luft.
Romeo aber war wie entfesselt. Er lief, sprang, flog. Seine Pfoten berührten den Boden kaum. Sein begeistertes Bellen war weithin zu hören.
Rasch trat Romy wieder auf den Weg. Sie verließ den Stadtwald und warf keinen Blick zurück.
Vero hatte sich in seine Räume zurückgezogen, ohne Pia zu entlassen, ohne ihr Anweisungen zu geben, ohne ein einziges Wort an sie zu richten.
Hatte er sich das als Strafe ausgedacht?
Sie zu ignorieren?
Sollte sie heute keine Aufgabe übernehmen? Dabei gab es so viel zu tun.
Pia hatte die vergangenen Stunden in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen verbracht. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, doch als sie ihr Zimmer betrat, merkte sie, dass es ihr schwerfallen würde, Ruhe zu finden. Snoop, den sie aus dem Schrank befreit hatte, führte einen Freudentanz auf.
Sie hielt ihm das Maul zu.
»Pscht! Sei still! Sonst finden sie dich.«
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Hatte sie Hausarrest oder durfte sie das Zimmer verlassen?
In Gedanken sah sie den Lesesaal der Unibibliothek vor sich, doch bevor die Sehnsucht danach sie überwältigen konnte, blendete sie das Bild rasch wieder aus.
Snoop lief winselnd zwischen Tür und Fenster hin und her. Es dauerte eine Weile, bis Pia begriff, was er von ihr wollte. Er hatte die ganze Nacht hier verbracht und musste dringend raus.
Und wenn Vero sie draußen entdeckte?
Na und?
Pia merkte, wie ihr Mut zurückkehrte. Ihre Bereitschaft, für das zu kämpfen, was richtig war. Es war richtig, willkürliche, absurde Verbote nicht zu akzeptieren. Es war richtig, Fragen zu stellen. Wie konnte Vero erwarten, dass sie plötzlich aufhörte zu denken?
Wollte Gott eine Herde lammfrommer Jasager, die sich um ihn scharte?
Wollte Vero das?
War es nicht sinnvoller, Menschen von der Kraft des Glaubens zu überzeugen, statt sie zum Nachplappern irgendwelcher Glaubenssätze zu zwingen?
Entschlossen holte Pia ihre warme Jacke aus dem Schrank und verließ das Zimmer mit dem Hund an ihrer Seite. Sie hob den Kopf und streckte den Rücken, als sie den Hof überquerte. Obwohl ihr bang zumute war. Würde Vero sie zurückrufen? Erwartete er, dass sie in ihrem Zimmer ausharrte, bis er ihr Absolution erteilte?
Absolution? Wovon?
Sie hatte nichts Falsches getan. Sie war ein freier Mensch mit einem freien Willen und konnte sich aufhalten, wo und wann und wie lange sie wollte.
Autosuggestion, dachte sie. Wenn ich noch ein bisschen übe, klappt es vielleicht.
An jedem dritten Baum hob Snoop das Bein, um das neue Revier zu markieren. Er tat geschäftig und wichtig, lief kreuz und quer, die Nase über hochinteressante Spuren gebeugt.
Niemand hielt Pia zurück. Niemand verscheuchte den Hund. Niemand schien sie beide überhaupt zu bemerken.
Zum ersten Mal seit Tagen, so kam es ihr vor, standen keine Wolken am Himmel. Ein kräftiges, kaltes Blau spannte sich über ihr. Es würde ein schöner Tag werden. Vom höchstgelegenen Punkt des Parks aus konnte Pia in der Ferne die Türme des Doms erkennen. Die Stadt war in rötlichen Dunst getaucht, der Rhein ein silbernes, glitzerndes Band.
Pia liebte Köln. Sie liebte das Leben in der Stadt und das Leben hier. Das alte Kloster. Die uralte Kirche. Den wundervollen Park.
Und sie liebte Vero.
War es so unbescheiden, das alles auf einmal zu wollen?
Snoop scharrte im Winterlaub unter den hohen Buchen. Er knurrte vor Wohlbehagen. Sein Fell sah aus wie gebürstet.
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