Teufelsengel
hatte das Unerklärliche sie fasziniert, war Neugier ihre stärkste Charaktereigenschaft gewesen.
Und dann war sie Vero begegnet.
Sie hatte einen seiner Vorträge besucht und ihn danach angesprochen. Allen Mut hatte sie damals zusammennehmen müssen. Doch Vero hatte sie dafür belohnt. Er hatte sie ins Kloster eingeladen, hatte ihr die Brüder vorgestellt, ihr Zeit gewidmet und ihr geduldig zugehört.
Er hatte ihr Antworten gegeben.
Zu spät hatte sie erkannt, dass es die falschen Antworten waren.
Die Zunge klebte Pia am Gaumen, aber sie war zu schwach, um aufzustehen, um etwas Leitungswasser zu trinken. Ein bisschen ausruhen, dachte sie. Kraft sammeln.
Eine Strategie zurechtlegen.
Eine Strategie. Das war es, was sie brauchte, um das hier zu überleben.
Sie konnte den Schrei des Mädchens immer noch hören. Sally …
Ihre Augenlider waren so schwer, und der Gedanke an ein paar Minuten Schlaf war so verführerisch, so gut, so …
Die Dunkelheit, die sie empfing, war tief und weich und still. Pia seufzte und hörte auf, sich dagegen zu sträuben.
»Bruder Arno? Der ist leider nicht da. Waren Sie verabredet?«
Mit allem hatte Romy gerechnet, nicht jedoch damit, dass sie Bruder Arno nicht antreffen würde. Die Pforte war nicht besetzt gewesen und weit und breit hatte sich keine Menschenseele gezeigt, deshalb war sie direkt zum Atelier gegangen. Doch sie hatte die hohe Flügeltür verschlossen vorgefunden.
Meine Tür ist immer offen. Sie hatte die Stimme von Bruder Arno noch im Ohr. Besucher sind mir jederzeit willkommen.
Es war unüberlegt von ihr gewesen, einfach hier aufzukreuzen. Sie hätte ihn vorher anrufen sollen.
Romy sah dem alten Mönch, den sie in der Leseecke der Cafeteria aufgestöbert hatte, in die wässrigblauen Augen. Ein freundliches Lächeln breitete sich in einem Kranz feiner Fältchen darum aus. Er wartete immer noch auf ihre Antwort.
»Nein. Ich war gerade in der Gegend und … Sie wissen nicht zufällig, wann er zurückkommt?«
»Schwer zu sagen, wenn er mit der Kamera unterwegs ist.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde? Vielleicht auch früher.«
»Darf ich solange auf ihn warten?«
»Aber sicher. Sie können in der Kirche warten oder hier. Und wenn Sie einen Kaffee möchten, hole ich Ihnen gerne einen.«
»Danke.« Romy erwiderte sein Lächeln. »Ich würde am liebsten ein bisschen herumlaufen.«
»Tun Sie das. Es gibt kein schlechtes Wetter - es gibt nur schlechte Kleidung. Heißt es nicht so?«
Fast tat es Romy leid, den freundlichen alten Mann zu verlassen, aber sie war nicht zum Vergnügen hier, sondern weil sie etwas herausfinden wollte. Sie stellte den Kragen ihrer Jacke hoch und trat wieder in die Kälte hinaus.
Während sie durch den Park schlenderte, wurde ihr bewusst, dass Bruder Arnos Abwesenheit ein Glücksfall für sie war. In seiner Gegenwart hätte sie sich nicht frei bewegen können.
Sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchte und ob sie überhaupt etwas suchte. Sie folgte einfach ihrer Intuition. Inzwischen war sie sich sicher, dass es Pia war, die sie gesehen hatte. Und sie wusste, dass sie sie nicht hatte sehen sollen.
Warum nicht? Wieso hatten die Mönche Pia abgeschirmt wie Bodyguards? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.
Das Kloster stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert, das hatte sie recherchiert. Damals hatte sich hier ein Mönch im Glockenturm der Kirche erhängt. Bruder Ignatius. Doch die Umstände seines Todes waren immer rätselhaft geblieben, und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er ermordet worden war.
Das war jetzt gut dreihundert Jahre her, und noch immer behaupteten die Leute, in den alten Gemäuern spuke es. Jetzt, allein im Park und ohne die anregende Gesellschaft von Bruder Arno, überlief Romy ein Frösteln. Die Tannen standen drohend aufgerichtet vor ihr. Kein Laut unterbrach die Stille. Die Gebäude wirkten kalt und abweisend. Nirgends war auch nur eine Spur von Leben.
Allmählich fragte Romy sich, was sie bewogen hatte, diesen Ausflug zu unternehmen. Was hatte sie zu finden gehofft? Hatte sie nicht hauptsächlich Bruder Arno wiedersehen wollen?
Immer noch flatterte etwas in ihrem Magen, wenn sie an ihn dachte.
Doch mittlerweile war ein dumpfer Eindruck von Bedrohung hinzugekommen.
Wieder hatte sie das Gefühl, dass in ihrem Unterbewusstsein etwas verborgen lag, ein Gedanke, den sie nicht zugelassen hatte und der jetzt, in der Kälte des grauen Novembernachmittags, an die Oberfläche
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