Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
brachte er die Tüten in den kleinen Hinterraum und legte den Fisch in den Kühlschrank. Den Wein zum Essen würde er erst später aussuchen.
Dann räumte er einen der beiden Präsentationstische leer. Die Weingebinde, Flaschenkühler, Dekanter und Rotweingläser wanderten hinter die Verkaufstheke, bis die gewünschte freie Fläche vor ihm lag. Am Ende faltete er das Papier vom Zeichentisch des Professors auseinander, strich es sorgfältig glatt und beschwerte die Ecken mit jeweils einer Flasche.
Als er noch in die Grundschule ging, gab es bei den Jungs in der Klasse ein Geheimnis, das sie die ›Unsichtbare Schrift‹ nannten. Um sich gegenseitig Botschaften zu schicken, verwendeten sie ein doppeltes Blatt Papier. Das obere mit der sichtbaren Nachricht wurde gleich wieder vernichtet und nur das darunterliegende weitergegeben. Wenn der scheinbar leere Zettel durch die Bankreihen zu seinem Empfänger gewandert war, konnte der die Abdrücke sichtbar machen, indem er mit der flachen Seite eines Bleistiftes so lange darüber fuhr, bis sich helle Striche vom dunklen Untergrund abhoben.
Nachdenklich blickte Kaltenbach abwechselnd auf die quadratmetergroße helle Fläche, die vor ihm lag, und den Grafitstift in seiner Hand. Das würde dauern. Vage erinnerte er sich an die Grundrisse der Linien auf der Karte. Fast alle waren irgendwie mit dem Belchen verbunden.
Er legte die neu erworbene Michelinkarte daneben und versuchte, die ungefähre Position des Berges auf der Unterlage festzulegen. Dann beugte er sich über den Tisch und begann mit dem Grafitstift die ausgewählte Stelle vorsichtig zu überstreichen.
Schon nach wenigen Sekunden erschienen die ersten haarfeinen Linien vor dem grauen Hintergrund. Ein Kreis tauchte auf mit einem ›B‹ in dessen Inneren, von dem einige Linien in verschiedene Richtungen abzweigten. Daneben sah er eine Zahl, die eine Zwei sein konnte.
Kaltenbach war erleichtert, dass der alte Trick immer noch funktionierte. Stück für Stück erweiterte er die briefmarkengroße graue Fläche ringförmig nach außen. Zwischendurch musste er immer wieder den Stift nachspitzen, um eine möglichst breite Auflagefläche zu erreichen. Nach etwa 20 Minuten begannen seine Augen von dem angestrengten Starren auf das Papier zu tränen und seine Hand zu krampfen.
Er legte den Stift zur Seite und ging für ein paar Minuten vor die Ladentür. Am Himmel über der Stadt schoben sich die Wolken ineinander wie zäher Brei. Immer noch regnete es nicht, dafür konnte er den Wind bis in die Gassen des Westend spüren. Für die nächsten Tage hatte der Wetterbericht in der Badischen einen deutlichen Temperaturanstieg vorhergesagt.
Dann schloss er die Tür wieder ab. Heute wollte er von niemandem gestört werden. Auf dem Papier traten nun immer mehr Zeichen, Linien und Buchstaben hervor. Oberhalb des Belchens gab es nach oben hin weitere Kreise, an deren Rand Großbuchstaben geschrieben waren, ebenso Richtung Süden und Südwesten. Die Kreise waren auf unterschiedliche Art mit Linien und Pfeilen verbunden. Nach Westen zum Rhein hin verloren sich die Linien in dem Kartenbereich, den er noch nicht freigelegt hatte. Die Zwei, die er gleich zu Beginn erkannt hatte, war Teil einer dreifachen Zahlenkombination, die jeweils rechts von den Buchstaben stand und am Ende von den Buchstaben V und M ergänzt wurde.
Mit einem Blick auf die verbliebene Fläche sah Kaltenbach ein, dass er sich etwas einfallen lassen musste. Es lag noch eine Heidenarbeit vor ihm, und seine Hand würde das nicht mehr lange mitmachen.
Er holte ein Messer und schabte vom Rande des Grafitstifts feine Späne ab, bis er ein kleines Häufchen beisammen hatte. Er streute das Pulver auf das Papier und verstrich es vorsichtig mit dem Finger.
Es klappte sogar besser als mit der mühsamen Schraffiermethode zuvor. Nach einer guten halben Stunde war er so weit. Vor Kaltenbachs Augen erschienen nach und nach die Forschungsergebnisse von Professor Oberberger. Es war das, was sein Mörder nun ebenfalls in den Händen hielt.
Donnerstag, 15. März, abends
»Das war köstlich!«
Luise lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut kochen kannst.«
Kaltenbach lächelte zufrieden. Wenn Luise geahnt hätte, wie knapp sein Zandermenü an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war! Normalerweise verließ er die Küche nicht mehr, sobald er mit Kochen begann. Doch dieses Mal war er zu sehr mit seinen
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