Teufelskreise (German Edition)
nächsten Monat würde sie zehn werden – und schon ganz allein auf der Welt.
Ich wusste, wie schwer diese Einsamkeit war. Ungefähr in ihrem Alter hatte ich praktisch über Nacht bei Nana leben müssen. Aber Beverley besaß weder Großeltern noch Tanten oder Onkel. Das arme Kind. Wo sollte die Kleine jetzt leben?
Meine Augen brannten. Ich musste aufhören, an sie zu denken, sonst würde ich gleich wieder weinen – wie schon eben unter der Dusche.
Mittlerweile dürften die Bluttests bereits Aufschluss über Lorries Krankheit gegeben haben, was die Schlagzeilen weiter anheizen würde. Wasser auf die Mühlen derjenigen, die behaupteten, Wære seien gewalttätig und gefährlich. Schlechte Presse wie diese machte es den ungefährlichen, verantwortungsbewussten Wæren noch schwerer, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Beunruhigt malte ich mir das Szenario aus, das nun folgen würde: Die Hexensymbole an der Wand des Tatorts wären Anlass dafür, beim lokalen Konvent zu ermitteln, womit auch Lorries Infektion bekannt werden würde. Irgendein Journalist, der seine Chance auf den Pulitzer-Preis witterte, würde recherchieren und auf die Verbindung zwischen Lorrie und Vivian stoßen, was wiederum zu einem öffentlichen Aufschrei und, schlimmer noch, zu einer Untersuchung von Vivian durch den Ältestenrat führen würde. Hexen und Wærwölfe waren beliebte Opfer des Medienzirkus.
Wahrscheinlich war das auch der Grund für Vivians Anruf gewesen. Sie benötigte jemanden, der unvoreingenommen war,um den Tarotkarten ein objektives Ergebnis zu entlocken. Nicht dass man mich im Moment als objektiv bezeichnen könnte.
Jede Frau, die in den letzten fünfzehn Minuten hereingekommen war, hatte ich von oben bis unten gemustert. Um acht Uhr morgens waren im Zentrum von Cleveland haufenweise gestresste Geschäftsleute unterwegs. Viele Frauen kamen und gingen. Sie trugen formelle Bürokleidung und bequeme Pumps.
Ich vermutete, dass auch Vivian eine von ihnen sein würde. Wahrscheinlich arbeitete sie irgendwo inkognito als Sekretärin oder Ähnliches und führte neben ihrer Tätigkeit als Hohepriesterin ein ganz normales Leben. Aber als mich um Viertel nach acht endlich eine Frau ansprach, sah diese nicht im Geringsten aus wie eine Sekretärin.
»Miss Alcmedi?«
Sie war die ganze Zeit über hier gewesen. Als die Gäste weniger zahlreich wurden, war sie an meinen kleinen Tisch gekommen und hatte mich angesprochen. Auf ihrem Namenschild stand »Vivian, Manager«.
Mit ihren blonden Locken, die sie hochgesteckt trug, sodass die Haarenden wild in alle Richtungen abstanden, erinnerte sie mich an eine Puppe aus meiner Kindheit, die ich mit dem Kopf voran in die Toilette gesteckt hatte, wenn ich ihre Haare waschen wollte. Auf die Dauer hatte ihnen das Prozedere nicht gutgetan. Vivians Haare jedoch sahen weich aus, und die Frisur stand ihr viel besser als meiner Puppe. Ihr Make-up war makellos, und als sie sich auf die Lippe biss, leuchteten mir ihre zu weißen Zähne entgegen. Offenbar trank sie nicht, was sie servierte, oder sie hatte sich die Zähne professionell bleichen lassen.
Meine Beine hörten auf zu wippen. »Hallo.«
Unter ihrer Schürze trug Vivian eine hübsche langärmlige und cremefarbene Bluse mit Manschetten, dazu eine braune Cordhose und modische Schuhe – ein Outfit, in dem sie ihren bürotauglich gekleideten, weiblichen Gästen ähnelte. Nur ihr Schmuck war zu protzig: Diamantstecker funkelten in ihren Ohren, die passenden Goldketten am Hals und Handgelenk, und mindestens ein Ring glänzte an jedem ihrer Finger. Offenbar hatte sich Vivian bei der Auswahl ihrer Accessoires an ihrem Nachnamen als Motto orientiert.
»Tut mir leid, ich konnte nicht früher zu Ihnen rüberkommen. Eine unsere Kellnerinnen ist heute nicht zum Dienst erschienen. Ich hätte Bescheid gesagt, aber Mandy hat Sie bedient.«
Alles, was ich über Vivian Diamond wusste, hatte ich von Lydia erfahren, einer älteren Hexe, deren Haus und Grundstück ich gekauft hatte und die auch jetzt noch nur zehn Minuten von mir entfernt wohnte. Lydia besuchte gewissenhaft jedes Treffen und jedes Ritual des Konvents und fand anschließend immer einen Grund, mich anzurufen oder vorbeizukommen, um mir Bericht zu erstatten. Nicht dass ich sie darum gebeten hätte; Lydia wollte mich schlichtweg dazu bringen, mich mehr einzubringen. Einmal hatte sie sogar gesagt, ich könnte eine bessere Hohepriesterin als Vivian sein. Das Lob hatte mir zwar geschmeichelt, aber ich
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