Teufelsmauer
Enthüllungen in der jüngsten Vergangenheit eine unwahrscheinliche Option, er mochte in der Hierarchie so hoch stehen, wie er wollte: Ein Monsignore aus dem Vatikan, der inzestuös Hand an sein eigenes Patenkind legte, hätte einen Aufschrei ausgelöst. Es hätte Schlagzeilen in der »Bild« gegeben, vielleicht eine neue Welle von Kirchenaustritten. Zornige Laien, wütende, rechtschaffene Mitbrüder.
Doch jetzt, mit Barbara Breitenhillers Tod, war das alles Makulatur. Niemand würde je erfahren, was wirklich geschehen war damals, vor dreizehn oder vierzehn Jahren an der Teufelsmauer.
»Wir müssen uns sofort den Monsignore vornehmen«, entschied Morgenstern. »Wo war er letzten Sonntagabend? War er tatsächlich in Rom und ist erst nach Bayern gekommen, als er von Barbaras Tod erfahren hat? Wir brauchen seine Fingerabdrücke, die DNA . Und ich will sehen, wie er reagiert, wenn er erfährt, dass wir diesen Brief haben.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte Hecht. »Wie soll er schon reagieren? Er wird das alles als Unfug abtun, als falsche Beschuldigung, und wird uns mit den besten Anwälten dieser Welt drohen, falls wir den Brief in irgendeiner Form öffentlich machen.«
»Wenn wir herausfinden, dass er am Sonntag schon in Kipfenberg war, dann haben wir ihn so oder so am Haken«, sagte Morgenstern.
»Und was ist mit Heinrich Pietzka?«, beharrte Hecht. »Das gehört doch zusammen. Für Pietzka hat er ein wasserdichtes Alibi. Da war er in München, beim Kardinal höchstpersönlich. Als bayerischer Geistlicher kannst du gar keinen besseren Gewährsmann haben als den Erzbischof von München und Freising.«
»Wasserdicht?«, sagte Morgenstern. »Das werden wir gleich haben.«
Ohne lange zu überlegen, ging er an Russers nach wie vor laufenden Computer, suchte im Internet die Nummern des Ordinariats in München heraus und hatte wenig später den persönlichen Sekretär des Erzbischofs von München und Freising am Apparat. Der bestätigte, ohne auch nur einen Moment nachdenken zu müssen, dass Dr. Johann Breitenhiller am Vorabend den Kardinal besucht habe. Und anschlieÃend habe er in einem der Gästezimmer übernachtet.
Morgenstern, jetzt ganz Terrier, lieà sich die Nummer des Bischofspalais geben, rief den Hausmeister an, der wiederum eine gewisse Veronika Hammerl herbeizitierte. Ebendiese Frau Hammerl konnte dem Herrn Oberkommissar ohne jeden Zweifel â und auf Wunsch auch jederzeit per eidesstattlicher Erklärung â versichern, dass der Monsignore am frühen Morgen das von ihr persönlich zubereitete Frühstück verzehrt habe. »Vor meinen Augen. Drei Tassen Kaffee. Dazu Rührei mit Schinken und eine Sternsemmel.«
»Ist dir das jetzt wasserdicht genug?«, fragte Hecht.
»Das beste Alibi, das mir seit längerer Zeit untergekommen ist«, musste Morgenstern eingestehen. »Da kann man nur staunen«, sagte er dann mit einem seltsamen Unterton. »Da sitzt der Mann in Hirnstetten, und unmittelbar bevor da drauÃen ein Mord passiert, fährt er hundert Kilometer weit weg und übernachtet dort ohne Not.«
»Was meinst du mit âºohne Notâ¹?«, fragte Hecht.
»Das liegt doch auf der Hand. Er hätte abends ohne Weiteres wieder nach Hause fahren können. In der Nacht ist das auf der A  9 doch ein Katzensprung. Da gibt es keinen Stau, fast keine Laster. In einer Stunde wäre er daheim gewesen. Stattdessen hat er sich in diesem Gästezimmer einquartiert«, führte Morgenstern den Gedanken fort.
»Wahrscheinlich ist das eine groÃe Ehre, wenn man eine Einladung vom Kardinal zum Ãbernachten bekommt«, gab Hecht zu bedenken. »Also ich fände das toll.«
Morgenstern versuchte hingegen, sich ein solches Zimmer vorzustellen. Bescheiden, sauber. Die Bibel auf dem Nachttisch. Keine Minibar, höchstens auf dem Tisch eine Flasche Mineralwasser und ein Apfel. WeiÃe, frisch gestärkte Leinenbettwäsche. Solche Räume, wenn auch ohne Bibel, kannte er von den Fortbildungsveranstaltungen der Polizei. Da blieb keiner freiwillig über Nacht, wenn er die Möglichkeit hatte, daheim in seinem eigenen Bett zu schlafen. Warum sollte das bei Priestern anders sein?
»Mir kommt das fast so vor, als ob unser Monsignore sich absichtlich abgesetzt hat. Weit weg von Mord und Totschlag â ganz weit
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