The American Monstershow in Germany
die beiden Freunde die Kneipe etwa eine Stunde später verließen, war es tiefe Nacht. Die meisten Menschen schliefen friedlich in ihren Häusern und dachten nicht an die Ratten, die emsig durch die Kanalisation huschten, um etwas zu fressen zu finden. Nicht nur die Menschen schliefen, auch die Stadttauben saßen an ihren angestammten Plätzen unter den Giebeln der Dächer und hatten die Köpfe unter die schmutziggrauen Flügel gesteckt ... alle, bis auf zwei. Das waren jene beiden, die zwei Kanalarbeiter heute in den Nachmittagsstunden gefangen und mit Draht an den Abstieg zur Kanalisation gebunden hatten. Vielleicht wären sich sonst Ratten und Tauben nie begegnet.
Der Morgen des nächsten Tages begann für Richard und Georg nicht anders als unzählige zuvor. Auf den Straßen herrschte das übliche Verkehrschaos, bei dessen Anblick einem sofort die Statistik über Verkehrstote in den Sinn kam, bis man begriff, dass es ein Wunder war, dass diese Statistik so positiv ausfiel. Der Lärm der Autos, der auf der Hauptstraße vorbeibrandete, weckte Richard, noch bevor es der Wecker tat. Richard murmelte verstört einige Silben, dann fuhr eine Hand pfeilschnell aus dem Bett heraus und schmetterte auf den völlig unschuldigen Wecker nieder. Eine Viertelstunde später saß Richard dann rasiert und adrett für den Tag gekleidet am Frühstückstisch.
Zu dieser Zeit begann für die Kanalarbeiter bereits das Tageswerk. Für zwei von ihnen hielt der Morgen eine kleine Überraschung bereit. Als sie an ihrem Einstieg in die Unterwelt ankamen, fanden sie die Tauben, die sie tags zuvor dort angebunden hatten, nicht mehr vor.
Wie, in aller Welt, hatten sich diese Biester befreit? Die beiden Kanalarbeiter hatten nicht viel Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, denn es stand ausreichend Arbeit an. Nun, vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten die Sache nicht so schnell als belanglos abgetan.
Aber woher sollten sie wissen, was sie in der Dunkelheit der Kanalisation an diesem Tag erwartete? Es war schließlich niemand Geringerer als der Tod persönlich. Als beide von tausenden Ratten überflutet am Boden der Kanalisation lagen, stand die Sonne bereits beinahe im Zenit. Zu dieser Zeit erhob sich eine Taube aus dem Dunkel der Unterwelt und flog zurück in den Himmel. Blut klebte an ihrem Schnabel.
Richard saß im Lehrerzimmer und kontrollierte die soeben von der 6b beendete Mathematikarbeit. Vor ihm auf dem Tisch dampfte eine Tasse heißer Kaffee. Hin und wieder richtete er seinen Blick aus dem Fenster zum Schulhof. Gegenüber, unter dem Dach des angrenzenden Gebäudes saß eine Schar Haustauben, der Richard jedoch keine weitere Beachtung schenkte. Sie saßen schon zu lange dort und koteten hin und wieder über Lehrern und Schülern ab, als dass irgendjemand vom Lehrerkollegium ihnen Beachtung geschenkt hätte. Richard dachte genauso wenig darüber nach, dass in der Kanalisation, die ebenfalls unter der Schule hindurchführte, emsig grau-braune Körper durcheinanderwuselten, immer bemüht, in der vorbeiströmenden, stinkenden Kloake etwas Essbares zu finden. Seine Gedanken verweilten stattdessen bei Anja Winter, der schmächtigen, blassen Physiklehrerin, die im Begriff war, ihn auf merkwürdige Art und Weise zu galvanisieren. Er war ihren Experimenten bereits seit einem Monat hilflos ausgeliefert, und dies war im Grunde nicht zu erklären, denn eine Schönheit im klassischen Sinne konnte man Anja Winter nicht nennen. Im Grunde konnte man sie überhaupt nicht als Schönheit bezeichnen, aber Richard war verliebt, und Liebe hatte noch nie Gründe angegeben, um bei einem Mann zu erscheinen.
Richard sah aus dem Fenster und erblickte Anja. Sie führte Aufsicht vor dem Eingang zum Speiseraum. Vom Lehrerzimmer aus war sie kaum von einer Schülerin der 9. Klasse zu unterscheiden, außer durch die Tatsache, dass sie sich konservativer kleidete, wenngleich sie heute einen schwarzen, enggeschnittenen Rock trug. Richard wusste, dass Anja Winter eine Figur besaß, bei der die Natur auf sonst übliche weibliche Rundungen großzügig verzichtet hatte, dass sie im Gesicht eine beängstigend wächserne Blässe aufwies, und dass sie strähniges Haar hatte, doch gleichzeitig ging von ihr eine so unbeschreibliche und auch wieder hilflose Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe aus, dass ein Mann mit einer gefühlvollen Seele es einfach spüren musste. Richard liebte Anja Winter so wie sie war, es wurde Zeit, ihr das zu sagen.
Gerade als
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