The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
eine andere Zeit zu denken – als ich verängstigt und ganz allein gewesen war.
»Wie heißt du?«, fragte ich möglichst sanft.
»Seb. S-S eb Pearce.« Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte, sich kleiner zu machen. »Seid ihr … seid ihr alle … Widernatürliche?«
»Ja, und wir werden widernatürliche Dinge mit deinen Organen anstellen, wenn du nicht sofort deine beschissene Klappe hältst«, fauchte jemand. Seb zuckte heftig zusammen.
»Nein, das werden wir nicht«, versicherte ich ihm. »Ich bin Paige. Und das ist Julian.«
Julian nickte nur. Offenbar war der Small Talk mit dem Amaurotiker jetzt mein Job. »Wo kommst du her, Seb?«
»Parzelle III .«
»Der Ring«, präzisierte Julian. »Nett.«
Seb wich seinem Blick aus. Seine Lippen bibberten vor Kälte. Bestimmt dachte er, wir würden ihn in Stücke hacken und bei irgendeinem okkulten Ritual in seinem Blut baden. Im Ring, so nannte man auf der Straße Parzelle III , war auch ich zur Schule gegangen. »Erzähl uns, was passiert ist«, forderte ich Seb auf.
Er warf einen scheuen Blick zu den anderen hinüber. Irgendwie konnte ich ihm seine Angst nicht verübeln. Sobald er hatte sprechen können, war ihm eingebläut worden, dass Seher die Quelle allen Übels auf dieser Welt seien. Und nun saß er mit einigen von ihnen im Gefängnis. »Ein Sechstklässler hat einen verbotenen Gegenstand in meinem Rucksack versteckt«, begann er. Vermutlich einen Seherstein, eines der am weitesten verbreiteten Objekte auf dem Schwarzmarkt. »Der Direktor hat gesehen, wie ich ihn im Klassenzimmer zurückgeben wollte. Er dachte, ich hätte ihn von einem dieser Bettler. Da haben sie die Schulwache gerufen, um mich zu überprüfen.«
Eindeutig ein Scion-Kind. Wenn es an seiner Schule eine eigene Wachmannschaft gab, musste seine Familie astronomisch reich sein.
»Es hat Stunden gedauert, sie davon zu überzeugen, dass ich reingelegt wurde. Deswegen habe ich auf dem Weg nach Hause eine Abkürzung genommen.« Seb schluckte schwer. »An einer Ecke standen zwei rot gekleidete Männer. Ich wollte mich an ihnen vorbeischleichen, aber sie haben mich gehört. Sie trugen Masken. Ich weiß nicht warum, aber ich bin sofort losgerannt. Ich hatte Angst. Plötzlich hörte ich einen Schuss und … und dann muss ich wohl ohnmächtig geworden sein. Danach ging es mir richtig schlecht.«
Ich fragte mich, wie Flux wohl bei amaurotischen Menschen wirkte. Es wäre nur logisch, wenn sie körperliche Symptome bekämen – Erbrechen, Durstattacken, unerklärliche Angstzustände – , aber wohl keine Phantasmagorie. »Das ist ja schrecklich«, sagte ich. »Aber ich bin mir sicher, dass das alles nur ein furchtbares Missverständnis ist.« Hundertprozentig. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass ein amaurotisches Kind aus gutem Hause wie Seb hier war.
Das schien Seb neuen Mut zu geben. »Dann werden sie mich also gehen lassen?«
»Nein«, erwiderte Julian.
Meine Ohren fingen ein Geräusch auf. Schritte. Pleione kam zurück. Sie öffnete die Tür, schnappte sich den Gefangenen, der am dichtesten bei ihr saß, und zerrte ihn mit einer Hand auf die Füße. »Folgt mir. Und denkt an die Regeln.«
Wir verließen das Gebäude durch eine große Doppeltür, die Handleserin wurde von der Flüsterin gestützt. Die eisige Luft draußen biss in jede verfügbare Hautstelle. Als wir den Galgen erreichten, zuckte ich kurz zusammen – vielleicht waren wir ja doch im Tower – , aber Pleione ging, ohne anzuhalten, daran vorbei. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit dem Teeblattleser angestellt hatte oder was hinter diesem Schrei steckte, aber ich würde sie auch bestimmt nicht danach fragen. Kopf runter, Augen auf. Auch hier würde das meine oberste Regel sein.
Sie führte uns durch verlassene Straßen, die, von Gaslaternen beleuchtet, nach einer verregneten Nacht nass waren. Julian schloss irgendwann zu mir auf. Während unseres Marsches wurden die Gebäude nach und nach immer größer – allerdings nicht im Wolkenkratzerformat. Davon waren sie weit entfernt. Keine Metallkonstruktionen, kein elektrisches Licht. Diese Häuser waren alt und wirkten fremdartig, als wären sie in einer Zeit erbaut worden, zu der noch ein anderes ästhetisches Empfinden vorherrschte: Steinmauern, Holztüren, Bleiglasfenster in tiefen Rot- und Blautönen. Und als wir um die letzte Ecke bogen, erwartete uns ein Anblick, den ich wohl nie vergessen werde.
Die Straße vor uns war seltsam breit. Nirgendwo
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