The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Junge nicht das Geringste bedeuten, aber er wirkte so verletzlich, dass ich ihn einfach nicht allein lassen konnte. Die Handleserin schwamm ebenfalls wieder in Tränen. Nur das Orakel, das gerade gelangweilt seine Handknöchel inspizierte, schien keinerlei Angst zu haben. Auf unserem Weg stießen weitere Gruppen weiß gekleideter Neuankömmlinge zu uns. Die meisten von ihnen wirkten verängstigt, einige aber fast schon beschwingt. Während die Reihen sich füllten, rückte meine Gruppe dichter zusammen.
Wir wurden zusammengetrieben wie eine Viehherde.
Schließlich betraten wir einen langen, weitläufigen Raum. Vom Boden bis zur Decke erstreckten sich olivgrüne Regale, die voll gepackt waren mit wunderschönen, alten Büchern. An der einen Wand sah ich elf Buntglasfenster. Alles wirkte sehr klassisch, sogar der Steinboden, dessen Platten ein diagonales Muster bildeten. Die Gefangenen stellten sich in Reihen auf. Ich landete zwischen Julian und Seb. Meine Sinne arbeiteten auf Hochtouren, und auch Julian schien extrem angespannt zu sein. Sein Blick wanderte durch die Reihe und blieb abschätzend an jedem Gefangenen in weißer Kluft hängen. Eine wahrlich bunte Mischung: Die verschiedensten Sehertypen waren vertreten, von Auguren über Wahrsager bis hin zu Medien und Sensorikern.
Pleione hatte uns verlassen. Nun stand sie auf einer von neun Säulen, neben ihr acht weiteren Gestalten, die wohl ihre Rephaimkollegen waren. Mein sechster Sinn meldete sich zitternd.
Sobald alle ihren Platz eingenommen hatten, legte sich drückende Stille über den Raum. Eine Frau trat vor und begann zu sprechen.
Kapitel Vier
E INE L EKTION ÜBER DIE S CHATTEN
»Willkommen in Sheol I.«
Die Sprecherin war fast zwei Meter groß und hatte vollkommen symmetrische Züge: Eine lange, gerade Nase, hohe Wangenknochen und tief liegende Augen prägten ihr Gesicht. Das Kerzenlicht schimmerte auf ihren Haaren und schmeichelte ihrer glatten Haut. Sie trug Schwarz, wie die anderen, aber ihre Ärmel und Seiten waren durchzogen von Gold.
»Ich bin Nashira Sargas.« Ihre Stimme war kühl und leise. »Ich bin die vom Blut bestimmte Herrscherin über das Volk der Rephaim.«
»Soll das ein Witz sein?«, flüsterte jemand.
»Schhh«, zischte ein anderer.
»Zunächst einmal muss ich mich dafür entschuldigen, dass eure Zeit hier so unangenehm begonnen hat, vor allem für jene unter euch, die im Tower untergebracht waren. Ein Großteil der Seher nimmt fälschlicherweise an, dass ihnen die Exekution bevorsteht, wenn sie in unsere Herde berufen werden. Wir setzen Flux 14 ein, um sicherzustellen, dass eure Überführung nach Sheol I sicher und ungestört vonstattengeht. Nach eurer Sedierung wurdet ihr mit Zügen zu einer Verwahranstalt gebracht, in der ihr überprüft wurdet. Eure Kleidung und anderen Habseligkeiten wurden konfisziert.«
Während ich ihr zuhörte, untersuchte ich die Frau, indem ich in den Æther blickte. Ihre Aura unterschied sich von allem, was ich je erspürt hatte. Ich wünschte mir, ich hätte sie sehen können. Fast kam es mir so vor, als hätte sie verschiedene Auren genommen und sie alle zu einem seltsamen Energiefeld zusammengepresst.
Und da war noch etwas. Eine gewisse Kälte. Die meisten Auren gaben ein sanftes, warmes Signal ab, was sich für mich so anfühlte, als würde ich an einem Heizkörper vorbeigehen. Aber diese hier ließ mich frösteln.
»Ihr seid vom Anblick dieser Stadt verständlicherweise überrascht. Vielleicht kennt ihr sie unter dem Namen Oxford. Ihre Existenz wird von eurer Regierung seit zweihundert Jahren geleugnet, also länger als ihr auf der Welt seid. Angeblich wurde sie nach einem Feuer evakuiert. Das war eine Lüge. Sie wurde abgeriegelt, damit wir, die Rephaim, sie zu unserer Heimat machen konnten.
Wir sind vor zwei Jahrhunderten hier angekommen, im Jahre 1859. Damals hatte eure Welt einen Punkt überschritten, den wir als ›Schwelle zum Æther‹ bezeichnen.« Abschätzend musterte sie unsere Gesichter. »Die meisten von euch sind Seher. Ihr begreift, dass um uns herum Geister mit einem eigenen Bewusstsein existieren, die zu feige oder zu stur sind, um sich ihrem endgültigen Tod im Herzen des Æthers zu stellen. Ihr könnt mit ihnen kommunizieren, und im Gegenzug leiten oder schützen sie euch. Doch diese Verbindung hat ihren Preis. Wenn die stoffliche Welt von zu vielen heimatlosen Geistern bevölkert wird, kann das tiefe Risse im Æther hervorrufen. Und wenn diese Risse sich zu stark
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