The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
war ein Auto zu sehen, nur eine lange Reihe von schäbigen Hütten, die sich in unberechenbaren Windungen von einem Ende der Straße bis zum anderen erstreckte. Sperrholzplatten stützten Dächer aus verrostetem Blech. Auf beiden Rändern dieser kleinen Stadt standen größere Bauten. Sie hatten schwere Holzportale, hohe Fenster und Zinnen wie die Schlösser zu Königin Victorias Zeiten. Das erinnerte mich so sehr an den Tower, dass ich den Blick abwenden musste.
Ein Stück von den Hütten entfernt standen auf einer Freiluftbühne einige schlanke Gestalten. Sie waren von etlichen Kerzen umgeben, die ihre maskierten Gesichter anstrahlten. Unter der Bühne drang Violinenspiel hervor. Das war Sehermusik, wie sie nur ein Flüsterer erschaffen konnte. Eine große Zuschauermenge sah zu ihnen hinauf. Jeder Einzelne dort trug eine rote Tunika mit schwarzer Weste.
Als hätten sie nur auf unsere Ankunft gewartet, begannen die Gestalten auf der Bühne zu tanzen. Sie waren alle Seher. Genauer gesagt war überhaupt jeder hier ein Seher – die Tänzer, die Zuschauer, einfach alle. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich so viele Seher an einem Ort gesehen, noch dazu in einer so friedlichen Versammlung. Rund um diese Bühne mussten bestimmt hundert Leute stehen.
Das hier war kein geheimes Treffen in irgendeinem Tunnel. Das war auch nicht Hectors brutales Syndikat. Das hier war anders. Als Seb nach meiner Hand tastete, schob ich ihn nicht weg.
Die Show dauerte nur wenige Minuten. Nicht alle Zuschauer schenkten ihr volle Aufmerksamkeit. Manche unterhielten sich, andere riefen spöttische Bemerkungen. Einmal hörte ich, wie jemand »Feiglinge« murmelte. Nach dem Tanz trat ein Mädchen in einem schwarzen Gymnastikanzug auf eine erhöhte Plattform. Ihre dunklen Haare waren zu einem strengen Dutt aufgesteckt, und sie trug eine goldene Maske, die an den Seiten in kleinen Flügeln auslief. Einen Moment lang blieb sie völlig reglos stehen. Dann warf sie sich von der Plattform und griff im Flug nach zwei roten Stoffbahnen, die vom Bühnenaufbau herabgelassen worden waren. Sie schlang ihre Arme und Beine darum, kletterte fast sechs Meter in die Höhe und wickelte sich dann so aus, dass sie in einer eleganten Pose verharrte. Das brachte ihr vereinzelten Applaus vom Publikum ein.
Mein Gehirn arbeitete nach dem Drogenrausch noch nicht wieder richtig. War das eine Art Kult für Seher? Mir war schon Seltsameres zu Ohren gekommen. Angestrengt blickte ich die Straße auf und ab. Eines war sicher: Das hier war nicht SciLo. Es gab keinerlei Anzeichen für die Präsenz von Scion. Große, alte Häuser, öffentliche Darbietungen, Gaslaternen und Kopfsteinpflaster … das wirkte fast so, als wäre die Zeit zurückgedreht worden.
Ich wusste genau, wo ich mich befand.
Jeder hatte schon von der verlorenen Stadt Oxford gehört. Das stand sogar im Lehrplan von Scion. Im Herbst des Jahres 1859 hatte ein Brand die Universität zerstört. Was von ihr übrig blieb, wurde zum Sperrgebiet erklärt. Aus Angst vor einer nicht näher erläuterten Kontamination durfte niemand mehr einen Fuß in die Stadt setzen. Scion hatte sie einfach von den Landkarten gelöscht. In Jaxons Aufzeichnungen hatte ich gelesen, dass ein unerschrockener Journalist vom Roaring Boy im Jahr 2036 damit gedroht hatte, einen Artikel darüber zu veröffentlichen. Doch als er hinfahren wollte, wurde sein Wagen von Scharfschützen von der Straße geholt, und er wurde nie wieder gesehen. Der Roaring Boy , ein kleines Revolverblatt, verschwand ebenso schnell von der Bildfläche. Sie hatten einmal zu oft versucht, die Geheimnisse von Scion aufzudecken.
Pleione drehte sich zu uns um. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur schwer zu erkennen, aber ihre Augen glühten immer noch.
»Es gehört sich nicht, so zu starren«, stellte sie fest. »Ihr dürft nicht zu spät zu der Einführung kommen.«
Trotzdem konnten wir nicht anders, wir mussten die Tänzer einfach anstarren. Wir folgten ihr, aber sie konnte uns nicht davon abhalten, uns das anzusehen.
In einer Kolonne liefen wir hinter Pleione her, bis wir vor einem riesigen schmiedeeisernen Tor ankamen. Es wurde von zwei Männern aufgeschlossen, die unserer Führerin stark ähnelten: die seltsamen Augen, dieselbe makellose Haut, die gleichen Auren. Pleione schwebte kommentarlos an ihnen vorbei. Seb wurde langsam grün im Gesicht. Während wir über den Rasen liefen, hielt ich ganz fest seine Hand. Eigentlich sollte mir dieser amaurotische
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