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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samantha Shannon
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sie.«
    »Nein«, weigerte ich mich.
    Sie schlug zu. Ich schmeckte Blut. Am liebsten hätte ich mich gewehrt und zurückgeschlagen, aber ich war so schwach, dass ich kaum die Hand heben konnte. Mühsam – dank der aufgesprungenen Lippe – schluckte ich die Pillen. »Bedecke dich«, fuhr meine Entführerin fort. »Wenn du dich mir noch einmal widersetzt, werde ich dafür sorgen, dass du diesen Raum nicht wieder verlässt. Zumindest nicht, solange du noch Fleisch auf den Knochen hast.«
    Damit warf sie mir ein Kleiderbündel vor die Füße.
    »Aufheben.«
    Ich wollte nicht wieder geschlagen werden. Diesmal würde ich umkippen. Mit zusammengebissenen Zähnen hob ich die Kleider auf.
    »Anziehen.«
    Als ich den Kopf senkte, um mir die Klamotten anzusehen, tropfte Blut von meiner Lippe. Auf der weißen Tunika bildete sich ein roter Fleck. Sie hatte lange Ärmel und einen eckigen Ausschnitt. Dazu gehörten eine schwarze Schärpe, eine passende Hose, Socken und Stiefel, schlichte Unterwäsche und eine schwarze Weste, auf der ein kleiner weißer Anker eingestickt war. Das Symbol von Scion. Mit ruckartigen Bewegungen zwang ich meine kalten Glieder in die Kleidung. Als ich fertig war, wandte sich die Frau zur Tür. »Folge mir. Sprich mit niemandem.«
    Außerhalb des Raums war eine tödliche Kälte, und der abgewetzte Teppich trug wenig dazu bei, dass es wärmer wurde. Irgendwann war er wohl mal rot gewesen, seine Farbe war inzwischen allerdings verblasst und mit Kotzeflecken übersät. Meine Führerin lotste mich durch labyrinthartige Korridore, deren schmale Fenster alle vergittert waren. Beleuchtet wurde unser Weg von Fackeln. Im Vergleich zum kühlen, bläulichen Licht auf den Straßen von London waren sie irgendwie zu hell, zu primitiv.
    Konnte das ein Schloss sein? Im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern rund um London fiel mir nichts wirklich Schlossartiges ein – seit Victoria hatte es keinen Monarchen mehr gegeben. Vielleicht war es ja eines der alten Gefängnisse der Kategorie D? Es sei denn, das hier war doch der Tower.
    Vorsichtig spähte ich nach draußen. Es war dunkel, aber im Schein einiger Laternen konnte ich einen Hof erkennen. Wie lange hatte ich unter dem Einfluss von Flux gestanden? Hatte diese Frau meine Kämpfe beobachtet? Nahm sie Befehle von der NVD entgegen, oder war es andersrum? Vielleicht arbeitete sie ja für das Archonitat. Aber die würden wohl keinen Seher beschäftigen. Denn egal, was sie sonst noch war, eine Seherin war sie definitiv.
    Die Frau blieb vor einer offenen Tür stehen. Von drinnen wurde ein Junge in den Korridor geschoben. Er war dünn, mit einem schmalen, rattenartigen Gesicht und dichten blonden Haaren und allen Anzeichen einer Fluxvergiftung: glasige Augen, bleiches Gesicht, blaue Lippen. Die Frau musterte ihn durchdringend.
    »Name?«
    »Carl«, krächzte er.
    »Wie bitte?«
    » Carl .« Es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte.
    »Nun, herzlichen Glückwunsch, Carl, du hast Fluxion 14 überlebt.« Das klang nicht sonderlich aufrichtig. »Es kann gut sein, dass du nun lange keinen Schlaf mehr bekommen wirst.«
    Carl und ich tauschten einen schnellen Blick. Mir war klar, dass ich genauso übel aussehen musste wie er.
    Während wir weiter durch die Gänge wanderten, sammelten wir noch einige gefangene Seher ein. Ihre Auren waren stark und klar von einander abgegrenzt, bei allen konnte ich zumindest vermuten, was sie waren: ein Prophet, eine Chiromantin – also eine Handleserin – , deren kurze Haare leuchtend blau gefärbt waren. Ein Teeblattleser. Ein Orakel mit kahl rasiertem Kopf. Eine schlanke, schmallippige Brünette, wahrscheinlich eine Flüsterin, deren Arm offenbar gebrochen war. Keiner von ihnen schien viel älter zu sein als zwanzig, aber auch nicht wesentlich jünger als fünfzehn. Alle waren bleich und krank vom Flux. Am Ende waren wir zu zehnt. Die Frau drehte sich um und musterte ihre kleine Freakshow.
    »Ich bin Pleione Sualocin«, sagte sie. »Während eures ersten Tages in Sheol I werde ich eure Führerin sein. Heute Abend wird es eine Einführung für euch geben. Hier gelten einige einfache Regeln, die ihr befolgen solltet: Ihr dürft den Rephaim nicht in die Augen sehen. Richtet eure Blicke auf den Boden, denn dort gehören sie hin, bis man euch auffordert, woanders hinzusehen.«
    Die Chiromantin hob die Hand. Ihre Augen waren starr auf ihre Füße gerichtet. »Rephaim?«
    »Das werdet ihr noch früh genug herausfinden.« Pleione

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