The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Schränkchen. »Komm mich bald wieder besuchen, Schwester. Ich kann dich zwar nicht beschützen, aber ich habe hier schon eine Dekade hinter mich gebracht. Vielleicht kann ich dich ja davon abhalten, dich umzubringen.« Sie schenkte mir ein müdes Lächeln. »Willkommen in Sheol I.«
*
Liss erklärte mir, wie ich zum Haus der Amaurotiker kam, wo der Graue Hüter Seb hingebracht hatte – der Reph, der die wenigen amaurotischen Menschen hier unter seiner Kontrolle hatte. Sein Name war Graffias Sheratan. Außerdem gab sie mir etwas Brot und Fleisch mit, das ich Seb zuschieben sollte. »Pass auf, dass Graffias dich nicht sieht«, riet sie mir noch.
Innerhalb der letzten vierzig Minuten hatte ich eine Menge gelernt. Die beunruhigendste Neuigkeit war sicherlich, dass Nashira mich auf dem Radar hatte, denn ich war bestimmt nicht scharf darauf, für alle Ewigkeit ihr Sklavengeist zu sein. Der Gedanke, nicht ins Herz des Æthers zu gelangen, wo alle Dinge starben, hatte mir schon immer Angst gemacht. Eine grauenhafte Vorstellung, ein rastloser Geist zu sein, sozusagen eine Ladung Reservemunition, die jeder Seher benutzen oder eintauschen konnte. Trotzdem hatte mich das nie davon abgehalten, Geister zu meinem Schutz vorübergehend an mich zu binden oder an Jax’ Stelle für eine unglaublich wütende Anne Naylor zu bieten, die schon als junges Mädchen ermordet worden war.
Liss’ Warnung zerrte ebenfalls an meinen Nerven. Irgendwann gibt man einfach auf.
Da lag sie falsch.
Das Haus der Amaurotiker befand sich außerhalb des Gebiets, in dem die Residenzen standen. Um es zu erreichen, musste ich durch mehrere verlassene Straßen laufen. In einer alten Ausgabe des Roaring Boy hatte ich einmal eine Straßenkarte von Oxford gesehen – auch eines dieser Andenken, die Jax Didion Waite abgeluchst hatte. So wusste ich nun zumindest ungefähr, wo die wichtigsten Orientierungspunkte zu finden waren. Ich folgte der Hauptstraße in nördlicher Richtung. Vor den Gebäuden waren einige Rotjacken postiert, aber sie nahmen mich kaum wahr. Bestimmt gab es irgendeine Art von Barriere, die uns davon abhielt zu fliehen. Und dann waren da natürlich noch die Minen im Niemandsland. Wie viele Seher wohl schon bei dem Versuch gestorben waren, diese Zone zu durchqueren?
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich das Haus gefunden hatte. Es war schlicht und unauffällig, hatte aber einen hübschen eisernen Zierbogen über dem Tor. Früher hatte dort sicher etwas anderes gestanden, nun las ich: Haus der Amaurotiker . Darunter folgte auf Latein: Domus Stultorum . Ich wollte gar nicht wissen, was das hieß. Vorsichtig spähte ich zwischen den Gitterstäben hindurch – und blickte direkt in das Gesicht eines Rephait, der offenbar Wache hielt. Seine dunklen Locken hingen bis auf die Schultern, und er hatte einen Schmollmund. Das musste dann wohl Graffias sein.
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, dich dem Haus der Amaurotiker zu nähern«, sagte er voller Missbilligung.
Aus meinem Gehirn verflüchtigte sich jeder vernünftige Gedanke. Die Nähe dieser Kreatur ließ mich bis ins Mark frieren.
»Nein«, antwortete ich. »Aber ich habe das hier.«
Damit streckte ich ihm meine Numa entgegen, die Ringe, Fingerhüte und Nadeln. Graffias warf mir einen derart angewiderten und hasserfüllten Blick zu, dass ich zusammenzuckte. Da waren mir ihre starren Mienen ja noch lieber. »Ich bin nicht bestechlich. Zudem benötige ich keinen wertlosen, menschlichen Tand, um Zugang zum Æther zu erlangen.«
Schnell schob ich den wertlosen, menschlichen Tand zurück in meine Tasche. Das war eine blöde Idee gewesen. Natürlich benutzten sie das dumme Zeug nicht. Es war die Währung der Bettler hier.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Kehre in deine Residenz zurück, Weißjacke, sonst rufe ich deinen Hüter, damit er dich züchtigt.«
Er zog seine gebundenen Geister an sich. Hastig drehte ich mich um und entfernte mich, ohne mich umzusehen, vom Tor und aus seinem Gesichtsfeld. Gerade als ich so schnell wie möglich nach Magdalen laufen wollte, ertönte irgendwo über mir eine leise Stimme.
»Paige, warte!«
Zwischen den Gitterstäben eines Fensters im ersten Stock tauchte eine Hand auf. Erleichtert sackte ich in mich zusammen. Seb.
»Geht es dir gut?«
»Nein.« Seine Stimme klang erstickt. »Bitte, Paige, bitte hol mich hier raus. Ich muss hier weg. Ich … es tut mir leid, dass ich dich widernatürlich genannt habe. Es tut mir so leid … «
Ein kurzer Blick
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