The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
ungezähmt, eben alles, was Scion zerstört hatte. Bei Sonnenuntergang kletterte ich, wenn mein Vater gerade nicht hinsah, hoch aufs Dach und setzte mich neben den großen Kamin. Dann blickte ich auf die Hügel hinaus, auf die endlosen Baumreihen, die sich unter dem weiten Himmel erstreckten, dachte an meinen Cousin Finn und die anderen Geister von Irland und vermisste meine Großeltern ganz schrecklich. Ich hatte nie verstanden, warum sie nicht mit uns gekommen waren.
Aber was ich eigentlich wollte, war Wasser: das Meer, das wundervolle Meer, diese funkelnde Straße zu den freien Ländern. Jenseits des Meeres wartete Irland darauf, dass ich nach Hause kam – zurück zum Eschenhain, zum gespaltenen Baum aus den Liedern der Rebellen. Mein Vater hatte mir versprochen, dass wir die Insel sehen würden, aber er war ständig mit Giselle zusammen. Jeden Abend redeten die beiden bis tief in die Nacht hinein.
Ich war zu jung, um zu verstehen, wie das Dorf wirklich war. In der Zitadelle mochten die Seher in Gefahr sein, aber sie konnten nicht in diese ländliche Idylle flüchten. Weit weg vom Archonitat neigten die Kleinstadtamaurotiker zur Nervosität. Diese eng verknüpften Gemeinden waren ständig von Verdächtigungen der Widernatürlichkeit durchzogen. Fast schon gewohnheitsmäßig beobachteten sie einander, hielten Ausschau nach Kristallkugeln und Sehersteinen, immer bereit, den nächsten Außenposten von Scion zu kontaktieren – oder das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Ein echter Seher würde hier keinen Tag überleben. Und selbst wenn, gab es keine Arbeit. Das Land musste bestellt werden, aber dazu brauchte man nicht viele Leute, sie hatten Maschinen für die Feldarbeit. Nur in der Zitadelle konnten Seher richtig Geld verdienen.
Ohne meinen Vater entfernte ich mich nicht weit vom Haus. Die Leute redeten zu viel, sahen zu viel, was Giselle in gleicher Weise erwiderte. Sie war eine strenge Frau, mager, mit harten Gesichtszügen, einem Ring an jedem Finger und langen, starken Sehnen, die an Armen und Hals deutlich hervortraten. Ich mochte sie nicht. Doch eines Tages entdeckte ich vom Dach aus einen sicheren Hafen: ein Feld voller Mohnblumen, das sich wie ein roter Teich unter dem grauen Himmel ausbreitete.
Jeden Tag, wenn mein Vater dachte, ich würde im Obergeschoss spielen, lief ich zu dem Feld, blieb ein paar Stunden dort und las mit meinem neuen Datenpad oder sah zu, wie die Blumen um mich herum die Köpfe neigten. In diesem Feld hatte ich zum ersten Mal richtigen Kontakt zur Welt der Geister, zum Æther. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich eine Seherin war. Für eine Neunjährige war Widernatürlichkeit nichts als eine Geschichte, ein verschwommenes Schreckgespenst. Zunächst einmal musste ich diese Welt begreifen. Ich wusste nur, was Finn mir gesagt hatte: dass die bösen Leute jenseits des Meeres kleine Mädchen wie mich nicht leiden konnten. Und dass ich nicht länger sicher war.
An jenem Tag fand ich heraus, was er gemeint hatte. Als ich mein Feld betrat, spürte ich die Gegenwart einer wütenden Frau. Sehen konnte ich sie nicht, nur fühlen . Ich fühlte sie in den Blumen, im Wind. Ich fühlte sie in der Erde und in der Luft. In der Hoffnung, dadurch verstehen zu können, was das war, streckte ich die Hand aus.
Plötzlich lag ich auf dem Boden und blutete. Es war meine erste Begegnung mit einem Poltergeist, also einem wütenden Geist, der in die stoffliche Welt eindringen konnte.
Mein Retter war schnell an meiner Seite: ein großer, kräftiger junger Mann mit weißblonden Haaren und einem freundlichen Gesicht. Er fragte mich nach meinem Namen. Mühsam brachte ich ihn heraus. Als er die Wunde an meinem Arm sah, wickelte er mich in seinen Mantel und nahm mich mit zu seinem Wagen. Auf seinem Hemd war der Schriftzug SCIONAID eingestickt. Als er eine Spritze hervorzog, verkrampfte sich mein kleiner Körper vor Angst. »Ich heiße Nick«, erklärte er mir. »Du bist in Sicherheit, Paige.«
Die Nadel bohrte sich in meine Haut. Es tat weh, aber ich weinte nicht. Nach und nach wurde die Welt um mich herum dunkel.
In der Schwärze träumte ich von Mohnblumen, die sich mühsam aus dem Staub hervorkämpften. Vorher hatte ich im Schlaf noch nie Farben gesehen, aber jetzt waren die Blumen und die untergehende Sonne leuchtend rot. Sie beschützten mich, bedeckten meinen fiebrigen Körper mit ihren Blütenblättern. Als ich aufwachte, lag ich in einem Bett mit weißen Laken. Mein Arm war verbunden, die
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