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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samantha Shannon
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sich an meiner Aura bedient hatte. Die Aura war für Seher so lebenswichtig wie Blut oder Wasser. Ohne sie würde ich in Bewusstseinsstarre verfallen und sterben oder als Wahnsinnige enden, die ohne Verbindung zum Æther leben musste.
    Als er zur Wand ging und die Vorhänge zurückzog, zeigte sich, dass die kleine Tür dahinter offen stand. »Die Amaurotiker haben das obere Stockwerk für dich hergerichtet. Solange du von mir nichts anderes hörst, wirst du dich ausschließlich dort aufhalten.« Er unterbrach sich kurz. »Außerdem solltest du wissen, dass es uns untersagt ist, in direkten körperlichen Kontakt miteinander zu treten, außer natürlich im Training. Selbst mit Handschuhen.«
    »Wenn du also schwer verletzt hier reinkommen würdest, soll ich dich sterben lassen?«, hakte ich nach.
    »Ja.«
    Lügner . Den nächsten Satz wollte ich mir eigentlich verkneifen, schaffte es aber nicht ganz: »Diesem Befehl werde ich nur zu gerne Folge leisten.«
    Der Wächter sah mich ausdruckslos an. Die Tatsache, dass meine Respektlosigkeit ihn kaum zu interessieren schien, machte mich noch wütender. Irgendwie musste man ihn doch knacken können. Doch er griff nur in die Schublade und holte meine Tabletten heraus.
    »Nimm sie.«
    Mir war klar, dass es in diesem Punkt keine Diskussion geben würde, also nahm ich sie entgegen.
    »Trink das.« Er reichte mir ein Glas. »Dann geh in dein Quartier. Du solltest morgen ausgeruht sein.«
    Meine rechte Hand ballte sich zur Faust. Ich hatte diesen Befehlston so satt. Ich hätte ihn verbluten lassen sollen. Warum zum Teufel hatte ich seine Wunde verbunden? Was für eine Kriminelle war das denn, die sogar ihre Feinde zusammenflickte? Jax hätte sich totgelacht, wenn er mich gesehen hätte. Oh, mein süßes Bienchen , hätte er gesagt, dir fehlt eindeutig der Stachel. Und vielleicht hatte er damit recht … jetzt noch.
    Sorgsam darauf bedacht, den Wächter nicht zu berühren, ging ich an ihm vorbei, bemerkte aber seinen Blick, als ich in den dunklen Tunnel trat. Er verschloss die Tür hinter mir.
    Über eine weitere Wendeltreppe gelangte ich ins Obergeschoss des Turms. Auf den ersten Blick erinnerte mich mein neues Reich an den Arrestblock: Ein großer, kahler Raum mit feuchtem Boden und vergitterten Fenstern. Auf dem Fensterbrett stand eine Petroleumlampe, die kaum Licht und noch weniger Wärme abgab. Daneben war das Bett, Typ Metallgestell mit durchgelegener Matratze. Im Vergleich zu den luxuriösen Samtbezügen auf dem Himmelbett des Wächters waren die Laken hier geradezu spartanisch. Eigentlich roch in diesem Zimmer alles nach menschlicher Unterlegenheit – aber Hauptsache allein.
    Ich durchsuchte jede Ecke und jeden Winkel, genau wie ich es unten getan hatte. Kein Fluchtweg, natürlich, aber es gab ein Badezimmer mit Toilette, Waschbecken und ein paar Hygieneartikeln. Ich dachte an Julian in seinem finsteren Keller und an Liss, wie sie zitternd in ihrer Hütte lag. Sie hatte nicht mal ein Bett. Sie hatte gar nichts. Hier drin war es vielleicht nicht schön, aber es war wesentlich wärmer und sauberer als in der Hüttensiedlung. Und sicherer. Mich umgaben feste Mauern, die mich vor den Emim schützten. Liss hatte nur einen schäbigen Vorhang.
    Da ich immer noch kein Nachthemd bekommen hatte, zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus. Spiegel gab es hier keinen, trotzdem konnte ich erkennen, dass ich Gewicht verloren hatte. Der Stress, die Fluxvergiftung und zu wenig nahrhaftes Essen forderten ihren Tribut. Ich drehte die Lampe herunter und fiel ins Bett.
    Obwohl ich nicht spürbar müde gewesen war, döste ich vor mich hin. Und dachte nach – über die Vergangenheit, über die seltsamen Umstände, die mich hierhergeführt hatten. Dachte an mein erstes Treffen mit Nick. Er hatte Jax und mich überhaupt erst zusammengebracht. Nick, der Mann, der mir das Leben gerettet hatte.
    Als ich neun war, kurz nachdem wir in England angekommen waren, fuhren mein Vater und ich auf einer »Geschäftsreise«, wie er das nannte, Richtung Süden. Er hatte unsere Namen auf eine spezielle Liste setzen müssen, damit wir die Zitadelle verlassen durften. Nach monatelanger Wartezeit erhielten wir endlich die Erlaubnis, Vaters alte Freundin Giselle zu besuchen. Ihr zuckerwatterosafarbenes Haus mit dem tief herabgezogenen Dach stand auf einem steilen Hügel, dessen Zufahrt mit altem Kopfsteinpflaster ausgelegt war. Die Landschaft ringsum erinnerte mich an Irland: freie, üppige Natur, wild und

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