The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Herz raste.
Laute Schritte dröhnten durch die Holztunnel. Julian zog vorsichtig den Vorhang beiseite. Drei Rotjacken stürmten vorbei, einer von ihnen hatte eine starke Taschenlampe dabei. Liss schlug die Augen auf, rührte sich aber nicht.
»Die haben Messer«, berichtete Julian.
Jetzt zog sich Liss in den hintersten Winkel der Hütte zurück. Sie griff nach ihren Karten, schlang einen Arm um die Knie und drückte den Kopf darauf. »Ihr müsst gehen«, sagte sie leise. »Schnell.«
»Komm mit uns«, drängte ich sie. »Schleich dich in eine der Residenzen. Hier bist du nicht sich…«
» Willst du unbedingt eine Abreibung von Aludra bekommen? Oder vom Wächter?« Finster blickte sie zu uns hoch. »Ich mache das jetzt schon seit zehn Jahren. Verschwindet.«
Hastig tauschten wir einen Blick. Wir waren sowieso schon spät dran. Was der Wächter mit mir machen würde, wusste ich nicht, aber uns war beiden klar, wie gewalttätig Aludra Chertan war. Vielleicht würde sie ihn diesmal einfach töten. Schnell schlüpften wir aus der Hütte und rannten los.
Kapitel Zehn
D IE B OTSCHAFT
Als ich die Residenz erreichte, heulten die Sirenen immer noch. XIX -49–33 öffnete erst nach ewigem Klopfen die Tür und brüllte meine Nummer, um den Lärm zu übertönen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ich tatsächlich ein Mensch war, zerrte sie mich durch das Portal und schlug es hinter mir zu. Erst dann schwor sie, mich nie wieder reinzulassen, wenn ich so verdammt lange brauchte, um die einfachsten Anweisungen zu befolgen. Ich wandte mich zum Gehen, während sie hektisch und mit zitternden Fingern die Riegel vorschob.
Die Sirenen verstummten, als ich den Kreuzgang erreichte. Diesmal hatten die Emim es nicht geschafft, in die Stadt einzudringen. Ich strich mein Haar zurück und versuchte, meine Atmung zu beruhigen. Nach einer Minute zwang ich mich, zum Durchgang und den sich nach oben windenden Steintreppen zu blicken. Ich musste es tun. Einen weiteren Moment stand ich reglos da und versuchte, mich zu sammeln, dann stieg ich die Stufen zum Turm hinauf, seinem Turm. Bei dem Gedanken, in einem Zimmer mit ihm zu schlafen, überlief es mich kalt – dieselbe Luft zu atmen wie er, dieselbe Wärme zu fühlen, denselben Raum einzunehmen.
Der Schlüssel steckte in der Tür. Ich schloss auf und schlich leise hinein.
Nicht leise genug. Sobald ich die Schwelle übertreten hatte, sprang mein Hüter auf. Seine Augen funkelten wütend.
»Wo warst du?«
Meine mentalen Schutzbarrieren gerieten ins Wanken. »Unterwegs.«
»Man hat dir gesagt, dass du hierher zurückkehren sollst, wenn die Sirene ertönt.«
»Ich dachte, du meinst nach Magdalen, nicht genau in dieses Zimmer hier. Du solltest dich klarer ausdrücken.«
Ja, ich hörte, wie frech das klang. Sein Blick verfinsterte sich, und er presste die Lippen zusammen.
»Du wirst angemessenen Respekt zeigen, wenn du mit mir sprichst«, betonte er, »oder es wird dir nicht länger erlaubt sein, dieses Zimmer überhaupt zu verlassen.«
»Du hast nichts getan, wodurch du dir meinen Respekt verdient hättest.« Unnachgiebig starrte ich ihn an, was er prompt erwiderte. Als ich mich weder rührte noch den Blick senkte, stolzierte er an mir vorbei und knallte die Zimmertür zu. Ich zuckte nicht einmal.
»Wenn du die Sirene hörst«, begann er wieder, »lässt du alles stehen und liegen und kehrst in dieses Zimmer zurück. Hast du mich verstanden?«
Wieder sah ich ihn nur an. Er beugte sich vor, bis er mit mir auf Augenhöhe war.
»Muss ich das etwa noch einmal wiederholen?«
»Besser nicht.«
Diesmal war ich mir sicher, dass er mich schlagen würde. Niemand, absolut niemand sprach so mit einem Reph. Doch er richtete sich nur wieder zu voller Größe auf.
»Morgen beginnen wir mit deinem Unterricht«, erklärte er. »Ich erwarte, dass du bereit bist, wenn die Nachtglocke ertönt.«
»Welcher Unterricht?«
»Die Vorbereitung für deine nächste Tunika.«
»Die will ich nicht.«
»Dann wirst du eine Akrobatin werden und den Rest deines Lebens den Hohn und Spott der Rotjacken erdulden müssen.« Er musterte mich fragend. »Möchtest du eine Witzfigur sein? Ein Hofnarr?«
»Nein.«
»Dann solltest du besser tun, was ich dir sage.«
Ein dicker Klumpen bildete sich in meiner Kehle. Auch wenn ich dieses Wesen abgrundtief hasste, sollte ich es ebenso fürchten. Vor meinem inneren Auge stieg das Bild auf, wie er in der Kapelle mit gnadenloser Miene über mir gestanden und
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