The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nicht alle Knochensammler. Gratuliere übrigens.«
Er streckte mir die Hand hin, und ich ergriff sie. »David.«
»Paige.«
»Paige.« Sein schwarzes Auge fixierte mein Gesicht. Das andere schien weniger genau zu zielen. »Ich dachte mir, falls du nichts Besseres vorhast, mache ich einen kleinen Spaziergang mit dir.«
»Wie mit einem Hund?«
Er lachte, ohne die Lippen zu verziehen.
»Hier entlang«, sagte er dann. »Und falls jemand fragt, bringe ich dich zu einer Befragung wegen eines Zwischenfalls.«
Wir liefen die schmale Straße entlang, in Richtung der Residenz der Protektoren. David war ein paar Zentimeter größer als ich, hatte lange Arme und war kräftig gebaut. Der hungerte nicht so wie die Clowns.
»Ist das nicht riskant?«, fragte ich.
»Was?«
»Mit mir zu reden. Du bist doch jetzt eine Rotjacke.«
Er grinste. »Hätte nicht gedacht, dass du so eine leichte Beute bist. Du tappst schon in ihre Falle, wie?«
»Was meinst du damit?«
»Absonderung, 40. Du siehst meine rote Tunika und denkst, ich sollte nicht mit dir reden. Hat dein Hüter dir das gesagt?«
»Nein, so ist es einfach.«
»Da siehst du’s. Das ist der Sinn und Zweck von diesem Ort hier: uns eine Gehirnwäsche zu verpassen. Wir sollen uns minderwertig fühlen. Was meinst du, warum sie die Leute jahrelang im Tower schmoren lassen?« Als ich nicht antwortete, schüttelte er den Kopf. »Komm schon, 40. Waterboarding, Isolation, tagelanger Nahrungsentzug. Danach kommt einem sogar das hier vor wie das Himmelreich.« Da hatte er nicht unrecht. »Du musst mal den Oberaufseher hören. Seiner Meinung nach sollten die Rephs über uns herrschen, sie sollten eine neue Monarchie einführen.«
»Warum denkt er das?«
»Weil er indoktriniert wurde.«
»Wie lange ist er denn schon hier?«
»Soweit ich weiß erst seit der XIX . Knochenernte, aber er ist ihnen treu ergeben wie ein Hund. Er hat versucht, dem Syndikat die guten Seher zu entreißen.«
»Dann ist er also ein Vermittler.«
»Allerdings kein guter. Nashira will einen Neuen haben. Jemanden, der den Æther auf einer höheren Ebene spürt.«
Mir lag schon die nächste Frage auf der Zunge, als ich plötzlich innehielt. Durch den feinen Nieselregen sah ich ein rundes Gebäude mit einer riesigen Kuppel vor uns aufragen. Der wuchtige, sperrige Bau stand auf einem leeren Platz, gegenüber der Residenz der Protektoren. Aus den Fenstern drang trübes, gelbliches Licht.
»Was ist das?« Staunend sah ich daran hoch.
»Die Clowns nennen es den Raum. Ich habe schon herauszufinden versucht, wozu es dient, aber anscheinend will niemand darüber sprechen. Menschen ist der Zutritt verboten.«
Ohne das Gebäude eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er weiter. Ich musste rennen, um ihn einzuholen. »Du sagtest, er hätte versucht, Seher aus dem Syndikat zu holen«, nahm ich den Faden wieder auf. »Warum?«
»Stell nicht zu viele Fragen, 40.«
»Ich dachte, das sei der Sinn dieses Treffens.«
»Mag sein. Oder vielleicht hast du mir auch einfach nur gut gefallen. Wir sind da.«
Unser Ziel war eine alte Kirche. Früher einmal war sie sicher wunderschön gewesen, doch nun war sie mehr als baufällig. In den Fenstern waren keine Scheiben mehr, und der Turm bestand nur noch aus seinen Stützbalken. Das südliche Portal war mit Brettern vernagelt. Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch.
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Ist nicht mein erstes Mal. Außerdem«, er duckte sich unter einem der Bretter hindurch, »hat der Oberaufseher erzählt, du wärst an wackelige Konstruktionen gewöhnt.« Sein Blick wanderte über meine Schulter. »Schnell, der Graue Hüter.«
Hastig schob ich mich zwischen die Latten. Gerade noch rechtzeitig: Graffias ging an dem Portal vorbei, begleitet von drei unterernährten Amaurotikern. Ich folgte David ins Innere der Kirche. Der Großteil des Daches war eingestürzt, Holzbalken und Betonbrocken hatten die Bänke zertrümmert, und überall lagen Glasscherben herum. Vorsichtig suchte ich mir einen Weg durch den Schutt. »Was ist hier passiert?«
David antwortete nicht, sondern sagte stattdessen: »Einhundertvierundzwanzig Stufen. Schaffst du das?«
Bevor ich etwas erwidern konnte, war er weg. Ich folgte ihm zur Treppe.
Klettern war nichts Neues für mich. In Parzelle I war ich auf Hunderte Gebäude gestiegen. Und die Treppenstufen waren größtenteils noch intakt; so dauerte es nicht lange, bis wir oben ankamen. Hier war der Wind so stark, dass er mir die
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