The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Denkerfürsten in London loswerden können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Suchradius auszuweiten, um an bessere Exemplare zu kommen. Das Abkommen garantiert, dass in zwei Jahren Sheol II gegründet werden soll, mit Scion Paris als Zitadelle für die Ernte.« Gedankenverloren strich er über die Wunden auf seiner Brust. »Und wer soll sie daran hindern, solange es die Emim gibt, die uns umbringen, wenn wir es versuchen?«
Mich überkam eine seltsame Kälte.
Nashira sah im Syndikat also eine Bedrohung. Das war mir neu. Ich kannte die Denkerfürsten nur als einen Haufen tratschender, selbstsüchtiger Egozentriker, zumindest die in der zentralen Parzelle. Die Versammlung der Widernatürlichen war seit Jahren nicht mehr zusammengetreten, die Denkerfürsten hatten innerhalb ihrer Gebiete tun und lassen können, was sie wollten, da Hector zu viel mit seiner Zockerei und seinen Weibergeschichten zu tun hatte, um sie im Zaum zu halten. Doch weit weg in Sheol I saß die vom Blut bestimmte Herrscherin der Rephaim und fürchtete sich vor einem pöbelnden Haufen Gesetzloser.
»Du bist einer ihrer treu ergebenen Gefolgsleute geworden«, stellte ich mit Blick auf die rote Tunika fest. »Wirst du ihnen helfen?«
»Ich bin ihnen nicht treu ergeben, 40. Das behaupte ich nur ihnen gegenüber.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu. »Hast du schon einmal gesehen, wie ein Reph blutet?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Ihr Blut nennt man Ektoplasma. Duckett ist ganz versessen darauf. Rephs sind sozusagen Fleisch gewordener Æther, ihr Blut also der Æther in flüssiger Form. Sieht man Ektoplasma, sieht man den Æther. Trinkt man es, wird man zu Æther – genau wie sie.«
»Aber das würde ja bedeuten, dass auch Amaurotiker den Æther nutzen könnten. Sie müssten nur ein bisschen Ektoplasma berühren.«
»Ganz genau. Theoretisch könnte das Plasma den Totaugen als eine Art Ersatzaura dienen. Natürlich nur für kurze Zeit, denn diese Nebenwirkungen halten nur ungefähr eine Viertelstunde an. Trotzdem würde ich wetten, dass wir innerhalb weniger Jahre eine ›Seher-auf-Knopfdruck-Pille‹ auf den Markt bringen könnten, wenn wir die entsprechenden Forschungen anstellen und die letzten Ecken und Kanten abschleifen würden.« Nachdenklich ließ er den Blick über die Stadt schweifen. »Eines Tages wird es so weit sein, 40. Dann werden wir mit diesen Mistkerlen herumexperimentieren, und nicht andersrum.«
Es war idiotisch von den Rephs gewesen, diesen Mann zu einer Rotjacke zu machen. Ganz offensichtlich hasste er sie abgrundtief.
»Eine Frage noch«, erinnerte David mich.
»Also schön.« Ich zögerte kurz, dann musste ich an Liss denken. »Was weißt du über die XVIII . Knochenernte?«
»Ich habe mich schon gefragt, ob du davon anfangen würdest.« Er schob ein Brett beiseite und legte so ein kaputtes Fenster frei. »Komm mit, ich werde es dir zeigen.« Ich folgte ihm durch das Loch.
In diesem Raum hielten sich Geister auf. Wieder einmal wünschte ich mir, ich könnte sehen, wie viele genau es waren; meiner Schätzung nach wohl acht oder neun. Die Luft roch schimmelig, irgendwie nach vermodernden Blumen. In einer Ecke hatte jemand einen Schrein errichtet, indem auf einer krude zugeschnittenen, ovalen Metallplatte ein paar bescheidene Gaben deponiert worden waren: Kerzenstummel, zerbrochene Räucherstäbchen, ein vertrockneter Thymianzweig, Schildchen mit Namen. In der Mitte stand ein Sträußchen aus Butterblumen und Lilien. Letztere verbreiteten den süßlichen Geruch. Sie waren frisch. David holte eine Taschenlampe hervor.
»Wirf einen Blick auf die zerstörte Hoffnung.«
Ich sah genauer hin. In die Metallplatte waren Buchstaben eingeätzt.
*
FÜR DIE GEFALLENEN
28. NOVEMBER 2039
*
»2039«, las ich vor, »die XVIII . Knochenernte.«
Ein Jahr vor meiner Geburt.
»Am Tag der Novembertide gab es einen Aufstand.« David leuchtete weiter den Schrein an. »Eine Gruppe von Rephs hat sich gegen die Sargas erhoben. Die meisten Menschen hatten sie auf ihre Seite gebracht, haben versucht, Nashira zu töten und die Menschen nach London zu schaffen.«
»Welche Rephs waren das?«
»Das weiß niemand.«
»Was ist passiert?«
»Ein Mensch hat sie verraten, XVIII -39–4. Ein schwaches Glied in der Kette, und damit ist alles in sich zusammengebrochen. Nashira hat die Rephdelinquenten gefoltert. Hat sie für immer gezeichnet. Die Menschen wurden von den Emim abgeschlachtet. Gewisse Gerüchte besagen,
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