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The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samantha Shannon
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Ausdruck war verschwunden.
    *
    In der Hüttensiedlung herrschte Unruhe. Umringt von schweigenden Clowns hockte eine Gruppe Rotjacken auf der Straße und unterhielt sich hektisch, aber mit gedämpften Stimmen. Ich spähte zum Wächter hinüber, um herauszufinden, ob er beunruhigt war. Falls ja, zeigte er es nicht. Als er sich der Gruppe näherte, verdrückten sich die Clowns größtenteils in ihre Hütten.
    »Was ist hier los?«
    Einer aus der Gruppe der Rotjacken schaute hoch, senkte aber sofort den Blick, als er erkannte, wer die Frage gestellt hatte. Seine Tunika war schlammverklebt. »Wir waren im Wald«, berichtete er mit rauer Stimme. »Und haben uns verirrt. Die Emim … sie … «
    Wie von selbst wanderte die Hand des Wächters an seinen Unterarm.
    Die Rotjacken hatten sich um einen vielleicht sechzehnjährigen Jungen geschart. Seine rechte Hand fehlte, und nicht nur seine Tunika war leuchtend rot. Ich biss krampfhaft die Zähne zusammen. Der Stumpf sah aus, als wäre die Hand mit Gewalt abgerissen worden und der Unterarm anschließend in einen Fleischwolf geraten. Vollkommen emotionslos analysierte der Wächter die Situation.
    »Du sagtest, ihr hättet euch verirrt«, wiederholte er. »Welcher Hüter war bei euch?«
    »Der Blutserbe.«
    Der Blick des Wächters wanderte über die Straße. »Ich hätte es wissen müssen.«
    Fassungslos starrte ich ihn an. Er stand einfach nur da! Der Verletzte zitterte inzwischen unkontrolliert, sein Gesicht war schweißnass. Wenn niemand diesen Stumpf verband oder ihm zumindest eine Decke besorgte, würde er sterben.
    »Bringt ihn nach Oriel.« Der Wächter wandte sich ab. »Terebell wird sich um ihn kümmern. Der Rest kehrt in die Residenzen zurück. Die Amaurotiker werden eure Wunden versorgen.«
    Ich musterte seine gemeißelten Züge, suchte nach dem geringsten Zeichen von Anteilnahme. Nichts. Es interessierte ihn nicht. Warum schockierte mich das eigentlich noch?
    Die Rotjacken luden sich ihren Freund auf und stolperten in eine Gasse. Sie hinterließen eine Spur aus Blutstropfen. »Er muss in ein Krankenhaus«, presste ich hervor. »Ihr wisst doch gar nicht, wie … «
    »Man wird sich um ihn kümmern.«
    Mehr sagte er nicht, doch sein Blick wurde hart. Das bedeutete wohl, dass ich gerade die Grenze überschritten hatte.
    Doch langsam fragte ich mich, wo genau eigentlich diese Grenzen verliefen. Der Wächter schlug mich nicht. Er ließ mich schlafen. Wenn wir unter uns waren, benutzte er meinen richtigen Namen. Er hatte sogar zugelassen, dass ich sein Bewusstsein angriff, hatte sich mir gegenüber verwundbar gemacht – sodass mein Geist ihm den Verstand hätte rauben können. Mir war unbegreiflich, warum er ein solches Risiko einging. Selbst Nick war extrem vorsichtig gewesen, wenn es um meine Gabe ging. (»Das nennt man gesunden Respekt, sötnos .«)
    Während wir uns auf den Weg zur Residenz machten, löste ich den Knoten, zu dem ich meine Haare gebunden hatte. Ich wäre vor Schreck fast wieder aus meinem Körper gesprungen, als plötzlich zwei fremde Hände die feuchten Locken über meine Schultern legten.
    »Ah, XX -40. Wie schön, dich wiederzusehen.« Die Stimme klang leicht amüsiert und war ziemlich hoch für die eines Mannes. »Ich muss dir gratulieren, Wächter. In einer Tunika sieht sie noch hinreißender aus.«
    Als ich mich zu dem Mann umdrehte, kostete es mich Überwindung, nicht angewidert zurückzuweichen.
    Es war das Medium, das mich in I-5 über die Dächer gejagt hatte – allerdings hatte er heute keine Fluxwaffe bei sich. Er trug eine seltsame Uniform in den Scion-Farben. Selbst sein Gesicht passte dazu: roter Mund, schwarze Augenbrauen, das Gesicht mit weißem Zinkpuder bestäubt. Er war schätzungsweise Ende dreißig. An seiner Hüfte hing eine schwere Lederpeitsche, auf der ich Blutspuren zu erkennen glaubte. Das musste der Oberaufseher sein, der Mann, der die Clowns unter seiner Kontrolle hatte. Hinter ihm stand das Orakel, dem ich in der ersten Nacht hier begegnet war. Der Junge hatte verstörende Augen, eines so dunkel, dass es fast schwarz war, das andere hellbraun. Seine Tunika hatte dieselbe Farbe wie meine.
    Der Wächter bedachte die beiden mit einem flüchtigen Blick. »Was willst du, Oberaufseher?«
    »Bitte verzeih meine Aufdringlichkeit, aber ich wollte die Träumerin wiedersehen. Ich habe ihre Fortschritte mit Interesse verfolgt.«
    »Sie ist keine Akrobatin. Ihre Fortschritte dienen nicht der allgemeinen Unterhaltung.«
    »Wie wahr.

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