The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
niemand schritt ein. Das war ein grausames Spiel, oder nicht? Sie konnten das doch nicht allen Ernstes tun. Sie trat einen weiteren Schritt vor und stieß gegen einen bärtigen Mann.
»Pass auf, wo du hintrittst!«, fuhr er sie an.
Gaia hörte, wie die Gefangenen am Zaun unruhig wurden. Sie sah hinüber und blickte in das Gesicht ihrer Mutter, die vorgetreten war, mit beiden Händen die Stäbe umklammert hielt und angestrengt durch die Menge in Gaias Richtung starrte.
»Mutter«, flüsterte Gaia. Fast hoffte sie, dass ihre Mutter etwas rufen würde, dem Soldaten, der dem männlichen Gefangenen nun eine Schlinge um den Hals legte, Einhalt gebieten; aber ihre Mutter hatte nur Augen für Gaia. Flehentlich sah sie sie an, schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen, und Gaia wusste genau, was die Botschaft war: Greif nicht ein.
Doch Gaia tat einen weiteren Schritt auf die Plattform zu. Der Soldat legte nun auch der Schwangeren eine Schlinge um den Hals.
»Aufhören!«, sagte Gaia.
Schon drehten sich ein paar Leute nach ihr um, in den Gesichtern Verblüffung und Abscheu. Sie machte einen weiteren Schritt. Aber eine Hand an ihrem Arm hielt sie zurück. »Närrin!«, hörte sie eine Stimme an ihrem Ohr. »Willst du, dass wir alle getötet werden?«
Gaia erstarrte, drehte sich nach rechts und sah in Ritas wütend funkelnde Augen, nur Millimeter von ihren eigenen entfernt. Sie weiteten sich vor Überraschung, als Rita ihre Narbe entdeckte, dann ließ sie Gaias Arm los.
Auf der Plattform standen die beiden Gefangenen Seite an Seite, Säcke über den Gesichtern, Schlingen um den Hals. Ihre Füße berührten sich. Die Frau hielt den Kopf gesenkt, und ihr gewaltiger Bauch, der sich unter ihrem grauen Kleid hervorwölbte, schien vor Kummer zu zittern.
Gaia sah zu den Leuten bei der Bastion, niemand hielt diese Hinrichtung auf, irgendjemand dort musste diesen Mord befohlen haben. Warum?
Ihr Blick wanderte zu der schwarz gekleideten Gestalt Sergeant Greys. Überrascht stellte sie fest, dass seine Augen auf ihr und Rita ruhten. In diesem Moment erkannte sie, dass er auf irgendeine Weise ahnte, wer sie war. »Setz dieser Sache ein Ende«, beschwor sie ihn stumm. Seine Hand schloss sich um seinen Gewehrgurt, aber sonst tat er nichts.
Ihr Blick flog zurück zu der Plattform, wo die Wache nun mit lauter Stimme verkündete: »Patrick Carrillo und Loretta Shepard. Man hat euch eines höchst verwerflichen Verbrechens gegen den Staat für schuldig befunden. In eklatanter Missachtung der Gesetze der Enklave und der natürlichen Ordnung habt ihr die Verordnung über Gentests bei vorgebrachten Bürgern gebrochen, eure Geschwister geheiratet und auf inzestuösem Wege eine genetische Monstrosität gezeugt. Auf diese Tat steht der Tod. Möget ihr als abschreckendes Beispiel für alle anderen dienen, die sich solcherart dem Willen der Enklave widersetzen.«
Der Mann rief noch etwas, einen letzten Protest, den Gaia nicht mehr verstehen konnte, denn er wurde von einem knallenden Geräusch unterbrochen, als die Falltür unter den Gefangenen sich auftat.
Eine furchtbare Stille senkte sich über den Platz. Das einzige Geräusch war das Knarren der Seile, als die Körper leicht hierhin und dorthin schwangen. Die Kette der Uhr um Gaias Hals fühlte sich auf einmal sehr schwer an. Sie konnte den Sekundenzeiger die Augenblicke zählen hören, bis das im Körper der Mutter gefangene Baby das Unglück bemerken würde, das Aussetzen ihrer Bewegungen wahrnehmen würde, dann den Sauerstoffmangel, das stockende Herz. Gaia begriff nur dunkel, weshalb man die Eltern verurteilt hatte, aber sie verstand sehr gut, was das Todesurteil für das Kind bedeutete.
»Nein«, flüsterte Gaia wieder und hielt das runde, feste Gewicht der Uhr durch den Stoff ihres Hemds umklammert.
»Ich weiß nicht, wer du bist oder woher du kommst«, sagte Rita mit leiser Stimme und packte abermals ihren Arm. »Aber du verschwindest jetzt besser. Hundert Leute haben deinen Ausbruch mitgekriegt, und jeder einzelne von ihnen könnte genau in diesem Moment beschließen, dich der Wache zu übergeben.«
Gaia registrierte ihre Warnung kaum, noch bemerkte sie, dass viele Leute sie aufmerksam beobachteten. Sie hatte keine Augen für ihre Mutter oder Sergeant Grey. Ihre Gedanken richteten sich ausschließlich auf das Baby. »Ich muss zu der Gefangenen«, sagte Gaia.
»Es ist zu spät«, sagte Rita und zog ihre rote Musselinkapuze zurecht. »Sie sind tot.«
Eine verzweifelte
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