The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Blickes würdigten, worauf sie die Kapuze ihrer Tunika tiefer ins Gesicht zog und weiterging. Einmal kam ihr ein einzelner alter Mann entgegen und dann mehrere junge Männer, aber von allen wurde sie ignoriert, und mit wachsender Gelassenheit erkannte sie, dass Derek recht gehabt hatte: Man hielt sie für eine Bedienstete. Schließlich, als der östliche Himmel sich aufzuhellen begann, erreichte sie ein offenes, kiesbestreutes Gelände mit mehreren Geschäften, die noch geschlossen hatten, und dann, weiter den Hügel hoch, einen weiten, mit Steinen gepflasterten Platz, über dessen gesamte Breite sich ein gewaltiges Gebäude erstreckte. Dies musste der Bastionsplatz sein. Arkadengänge säumten zwei Seiten des Platzes, und seine Mitte wurde von einem monumentalen Obelisken beherrscht, schwarz vor dem fernen Purpur des Himmels.
Gaia trat unter eine der Arkaden und verschnaufte an einer der hölzernen Säulen. Nahe des Obelisken hämmerten zwei Männer im Schein einer einzelnen Glühbirne an einer Plattform. Das Echo ihrer rhythmischen Schläge hallte über den Platz.
An der vierten Seite des Platzes, im rechten Winkel zum größten Gebäude, der Bastion, standen hinter einem Eisenzaun mehrere funktional wirkende Häuser. Ein großer geziegelter Torbogen trennte zwei davon, und dahinter konnte Gaia einen kleinen Hof ausmachen. Sie wandte sich gerade in diese Richtung, als das Schreien eines Babys direkt in Gaias Nervenbahnen drang, sie innehalten ließ und in Alarmbereitschaft versetzte. Sie suchte die Gebäude nach dem Ursprung des Schreiens ab und sah über der Arkade ein Fenster, durch dessen Vorhang Licht sickerte. Das Schreien verebbte, dann hob es wieder an. Ein Arm griff aus dem Fenster und zog die Fensterläden zu. Gaia lauschte angestrengt, aber nun war das einzige, was sie hören konnte, die ferne Stimme eines der Arbeiter, die offenbar gerade Pause machten. Beunruhigt zog sie ihre Tunika enger um sich. Dies hätte auch ein von ihr vorgebrachtes Baby gewesen sein können.
Sie suchte das Gebäude nach Anzeichen dafür ab, dass es sich um das Säuglingsheim handelte, aber vermutlich waren über den Geschäften der Arkade doch eher Privatwohnungen.
»Alles in Ordnung«, flüsterte Gaia, um sich zu beruhigen. Es ging ihr so weit gut, aber sie brannte darauf, mehr über ihre Umgebung zu erfahren. Wie wenig Nützliches sie doch in den Tvaltarsendungen gelernt hatte, in denen es hauptsächlich um Feste und Feiertage gegangen war, doch im Moment hätte sie viel für einen brauchbaren Stadtplan gegeben.
Gaia zog sich ein wenig hinter die Säule zurück, als sich im Stechschritt Stiefel näherten. Plötzlich stapften vier Wachen durch das hohe Ziegeltor und an Gaia vorbei, in ihrer Mitte eine fünfte Gestalt, ein Mann mit auf dem Rücken gefesselten Händen, der auf bloßen Füßen dahinstolperte. Sie hielten auf das mächtige Gebäude am Rand des Platzes zu, nahmen die flachen Stufen zu der großen Tür, die sich öffnete, um sie einzulassen, und alle fünf verschwanden in der Bastion.
Gaia zitterte. Sie sah wieder zu dem Torbogen, durch den die Wachen gekommen waren, und war sich nun sicher, dass dahinter das Gefängnis lag. Als sie hochsah, entdeckte sie, dass ein kleiner Turm sich rechts von dem Bogen erhob. Seine schwarzen Umrisse zeichneten sich vor dem heller werdenden Himmel ab. Falls dort ein Wachmann stand, musste er sie sehen. Sie bog scharf nach links ab und ging dicht an der Wand des Gebäudes entlang bis zu seiner Rückseite. Noch mehr verrammelte Fenster boten sich ihr dar. Ihre Hoffnung schwand. Wie sollte sie je ins Gefängnis gelangen? Wie sollte sie ihre Eltern je befreien?
»He! Du da!«, rief eine Stimme.
Sie fuhr zusammen und drehte sich um.
Ein großer Wachmann kam auf sie zugeschlendert. »Was verkaufst du?«
»Nichts«, keuchte sie. »Ich wollte nur eben …«
»Dann mach, dass du weiterkommst. Hier wird nicht gegafft. Komm zur Mittagszeit wieder, dann kriegst du was geboten.«
Gaia tat einen Schritt zurück. »Ja, Bruder«, sagte sie. Sie drehte sich um und huschte davon, in ihrer Eile bemerkte sie kaum, in welche Richtung sie ging, sie hörte ihn lachen, und es klang kalt und spröde in ihren Ohren.
Der Himmel hellte sich weiter auf, eine Spur von Gelb war nun darin, und immer mehr Leute traten auf die Straße. Gaia ging weiter und weiter. Sie hatte Angst anzuhalten, aber sie hatte auch Angst, den Hügel wieder hinab zu geraten und sich zu verlaufen. Über ihr hängten die
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