The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
sein würde und nicht sie.
Gaia richtete sich auf. Ihre Eltern würden zurückkommen wie alle anderen, die man vorübergehend in Gewahrsam genommen hatte. Sie würden ihr gewohntes Leben fortsetzen, nur dass es jetzt zwei Hebammen in der Familie geben würde und doppelt so viel Einkommen. Gaia mochte ja vernarbt und hässlich sein, doch im Gegensatz zur alten Meg hatte sie eine Zukunft und Menschen, denen sie etwas bedeutete.
Die alte Meg schüttelte den Kopf und ging davon. Gaia sah zu, wie sie sich ihren Weg zum Ende der engen Gasse suchte und in der Dunkelheit verschwand. Dann betrachtete sie das kleine Päckchen in ihrer Hand. Im fahlen Mondlicht sah sie, dass ein Stoffband daran befestigt war. Sie hob den Saum ihres Rocks, fühlte die kalte Nachtluft an ihren Beinen und band das Päckchen rasch um ihren rechten Oberschenkel, sodass es flach anlag. Dann ließ sie ihren Rock wieder fallen und tat versuchsweise ein paar Schritte. Das Päckchen war ein wenig kühl auf ihrer Haut, aber sie ahnte, dass sie es schon bald nicht mehr wahrnehmen würde, selbst wenn sie sich bewegte.
Als sie zurück auf die Sally Row trat, schien das Kerzenlicht noch immer aus dem Fenster im Untergeschoss ihres Hauses, und sie hielt den Blick auf das größer werdende gelbe Viereck gerichtet, während sie leise voranschritt. Die Nachbarhäuser lagen still da, mit zugezogenen Vorhängen. Sie überlegte, ob sie nicht lieber zum Haus der Rupps gehen sollte, aber wenn wirklich ein Wachmann auf sie wartete, würde er sie früher oder später ohnehin finden. Es war besser, sich ihm jetzt zu stellen und so viel wie möglich über ihre Eltern in Erfahrung zu bringen.
Die Stufe zur vorderen Veranda knarrte, als sie darauf trat, als wolle das Haus Gaia etwas mitteilen. Mit drei weiteren Schritten erreichte sie die Tür und öffnete sie sacht. »Mom?«, rief sie. »Dad?« Automatisch sah sie zum Tisch, wo eine Kerze aufrecht in einer flachen Tonschüssel brannte, doch der Stuhl daneben war leer.
Der letzte Funke Hoffnung, dass ihre Mutter daheim sein würde, erlosch. Stattdessen erhob sich ein Mann neben dem Kamin. Sofort registrierte sie das Schwarz seiner Uniform und das Gewehr auf seinem Rücken. Kerzenschein erhellte die Unterseite seines Kiefers und die breite, flache Krempe seines Huts. Seine Augen blieben von Schatten umhüllt.
»Gaia Stone?«, fragte er. »Ich bin Sergeant Grey und würde dir gern ein paar Fragen stellen.«
Die Kerze flackerte im Luftzug. Gaia schluckte nervös und schloss die Tür, während ihre Gedanken fieberhaft arbeiteten. Würde er sie verhaften? »Wo sind meine Eltern?«, fragte sie.
»Sie wurden zur Befragung in die Enklave gebracht«, sagte er. »Es ist nur eine Formalität.« Seine Stimme klang kultiviert, sanft und geduldig, und Gaia sah ihn sich genauer an. Er kam ihr vage bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal am Tor oder an der Mauer gesehen zu haben. Viele der Wachen waren kräftige, einfache Männer, die man aus Wharfton eingezogen hatte und die stolz darauf waren, ihren Lebensunterhalt im Dienst der Enklave zu bestreiten. Sie wusste aber, dass manche auch Freiwillige von innerhalb der Mauer waren, gebildete, ehrgeizige Männer. Gaia vermutete, dass dieser Mann der letzten Kategorie angehörte.
»Warum?«, fragte sie.
»Wir hatten nur ein paar Fragen«, sagte er. »Wo bist du gewesen?«
Sie zwang sich zur Ruhe. Schließlich hatte sie nichts Unrechtes getan. Sie wollte ihm die Wahrheit sagen, wenigstens teilweise, um sich und ihre Eltern nicht noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen. Gleichzeitig jagte er ihr Angst ein. Auch ohne dass sein Gewehr auf ihren Kopf gerichtet war, spürte sie die Drohung, die davon ausging. Als sie ihre Tasche auf dem Tisch abstellte, bemerkte sie, dass ihre Finger zitterten, und sie versteckte ihre Hände hinter dem Rücken.
»Bei einer Geburt. Meiner ersten«, sagte sie. »Im letzten Haus in der Barista Alley. Eine junge Frau namens Agnes Lewis. Sie hat eine kleine Tochter bekommen, und ich habe sie vorgebracht.«
Er nickte. »Meinen Glückwunsch. Die Enklave kann froh sein, dich in ihren Diensten zu haben.«
»Ich bin froh, zu dienen«, antwortete sie mit der Höflichkeitsformel.
»Aber weshalb bist du zu der Geburt gegangen und nicht deine Mutter?«, fragte er.
»Sie war bereits bei einer anderen Niederkunft. Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen, dass sie nachkommen solle, sobald sie fertig sei, aber …« Der Zettel mit ihrer
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