The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
er.
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Wollte er etwa hören, dass sie monatelang Albträume gehabt hatte, nachdem ein Junge aus der Nachbarschaft an Fieber gestorben war? Oder dass andere Kinder Gaia wegen ihres Gesichts gehänselt hatten? Am schlimmsten war der Rückweg vom Zapfhahn gewesen, wenn sie mit Wasser beladen gewesen war. Sie hatte weder rennen noch sich mit den Händen verteidigen können, und jeder gemeine Junge, der sie mit etwas hatte bewerfen wollen, hatte das tun können. Sie hatte sich nach neuen Ideen und Wissen verzehrt und war nie in der Lage gewesen, ihre Neugierde zu befriedigen. Dazu der stetig wachsende, brennende Groll, als sie mit den Jahren erkannte, dass die Menschen innerhalb der Mauer nicht um ihr Überleben kämpfen mussten wie die Leute in Wharfton.
Andererseits hatten ihre Eltern sie inniglich und von ganzem Herzen geliebt.
Gaia stellte ihre Tasse beiseite, dankbar, dass er sie nicht zu einer Antwort drängte. Gut oder schlecht, glücklich oder nicht – dieses Leben war nun vorbei. Sie konnte ja nicht einfach zurückgehen und ihre Tätigkeit als Hebamme im dritten westlichen Sektor wieder aufnehmen.
Strähnen ihres Haars hatten sich gelöst und fielen ihr ins Auge. Sie flocht ein paar lose Enden zu einem kleinen Zopf und schob ihn hinter ihr rechtes Ohr, wo er schon wieder begann sich zu lösen. »Ich bin mir sicher, dass du innerhalb der Mauer glücklicher warst, als du es draußen gewesen wärst«, sagte sie. »Weißt du, du könntest mit deiner Familie wahrscheinlich immer noch alles ins Lot bringen. Du hast nichts wirklich Unverzeihliches getan, oder doch?«
»Ich habe etwas Zeit für mich gebraucht und um meinen leiblichen Vater zu finden, also bin ich gegangen. Klingt das unverzeihlich? Sie haben Soldaten geschickt, um mich wieder einzufangen.« Er trommelte mit seinen Fingern auf der Tischplatte. »Wir sollten unsere Pläne für morgen ausarbeiten.«
Sie nickte. »Ich gehe mit Schwester Khol meine Mutter holen und versuche, einfach mit ihr die Treppe runterzugehen. Dann bringen wir sie hierher, und in der Nacht überlegen wir uns, wie wir nach draußen kommen.«
»Im Notfall kannst du auch in die Bastion gehen. Von dort gibt es Verbindungen zum Turm.« Er zeigte es ihr auf der Karte.
»Gut zu wissen.«
»Wenn du nicht herauskommst, gehe ich hinein und suche dich. Wenn dir keine andere Wahl mehr bleibt, versuche, nach oben bis zum Dach durchzukommen. Das werden sie nicht erwarten. Und ich beginne mit meiner Suche nach dir von oben nach unten.«
Wieso half er ihr jetzt, wo er ihr doch zuvor nicht geholfen hatte? Sergeant Bartlett hatte eine Möglichkeit gefunden, sie aus der Bastion zu befreien. Warum hatte Leon nicht das Gleiche tun können?
»Ich nehme trotzdem das Seil mit«, sagte sie.
»Nur zu. Brich dir aber nicht den Hals. Ich nehme an, dass du mich nicht an deiner statt hineingehen lassen wirst?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie vertraute ihm nicht.
»Dacht ich’s mir doch«, sagte er. »Und das trotz meiner starken Arme.«
Überrascht blickte sie auf, und sie sahen sich an. »Ich habe das nicht unbedingt als Selbstlob gemeint.«
»Nein?«
Ein Stückchen Glut bewegte sich im Ofen und flackerte kurz auf. Ansonsten lag der Raum völlig still. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm und wusste nicht, was sie fühlen sollte, und dass er sie schon wieder mit diesem neugierigen, aufmerksamen Ausdruck betrachtete, machte die Sache nicht einfacher.
»Treibst du Späße mit mir?«, fragte sie.
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Würde dir das gefallen?«
Einen Augenblick war sie sprachlos. Dann runzelte sie die Stirn. »Was weißt du über Sergeant Bartlett?«, fragte sie.
»Außer, dass er dir zur Flucht verholfen hat? Das hat alles durcheinandergebracht, weißt du.«
»Kommt auf die Perspektive an«, sagte sie.
»Seid ihr Freunde?«
»So ähnlich«, sagte sie. »Wie ist er so?«
Leon stand auf und nahm einen kleinen Gegenstand vom Ofensims: ein winziger Handrührer, eher ein Spielzeug als ein richtiges Küchengerät. Er drehte das kleine Rad. »Jack ist wie die meisten Kerle. Arbeitet hart. Ein anständiger Typ. Ich glaube, er singt gern. Warum?«
Gaia wünschte, sie hätte die Chance gehabt, ihn kennenzulernen.
Leon gab dem Rad einen solchen Schwung, dass einer der Rührbesen sich löste. Er fluchte und griff nach dem kleinen Teil. »Vergiss es, Gaia. Er ist nicht dein Typ.«
»Und woher willst du wissen, wer mein Typ
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