The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
alles wäre ganz anders gekommen.
»Ich hätte nie so etwas versucht, falls es das ist, was du dich fragst«, sagte er. »Und zwar nicht aus Angst vor dem Pranger.«
»Nein – du bist vielleicht im Stillen eifersüchtig, aber geküsst hättest du mich nie«, fuhr sie ihn an, auch wenn das ziemlich unfair war.
»Gesteh mir wenigstens etwas mehr Fingerspitzengefühl zu«, sagte er. »Ich meine ja nur, dass ich dich nie in eine solche Lage gebracht hätte.«
»Weil du einfach zu anständig bist.«
»Wirf mir das doch bitte nicht auch noch vor!« Er trat Spider in die Flanken und ritt voran.
Sie trieb ihr Pferd an und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Eine Weile ritten sie in angespannter Stille dahin, während Gaia sich über ihre Gefühle klar zu werden versuchte. Sie wollte nicht mit Will streiten. Der Pfad stieg an und führte durch ein kleines Waldstück, bis sie schließlich den oberen Rand der Klippe erreichten.
»Es muss etwas geschehen«, sagte sie. »Wir müssen das Gesetz ändern.«
»Ich weiß.«
»Und vermutlich fällt diese Aufgabe mir zu.«
»Versuchen kannst du es ja.«
Ein Leichnam hätte optimistischer geklungen. Als sie um die nächste Ecke bogen, sah sie auf der anderen Seite der Wiese die Hütte des Siegers. Es brannte noch Licht. Die Glühwürmchen waren verschwunden, und die Zikaden gaben nur noch gelegentlich ein Zirpen von sich. Sie wurde langsamer und hielt dann bei der Treppe an.
»Sagst du deiner Familie bitte, dass es mir sehr leid tut? Ich wollte Peter doch nie in Schwierigkeiten bringen. Ich weiß gar nicht, wie ich deinem Vater je wieder gegenübertreten soll.« Sie glitt vom Pferd und vergewisserte sich, dass sie ihre Tasche dabeihatte.
»Peter wusste, welches Risiko er einging, selbst wenn es dir nicht klar war«, erwiderte er.
»Norris hat dasselbe gesagt«, sagte sie, aber es ging ihr nicht besser deswegen. »Ich wünschte, ich hätte es eher begriffen.«
Es verging ein langer Moment, in dem sie ihn anschaute, wie er da vor dem Nachthimmel auf seinem Pferd saß und sie seinerseits anblickte. Eine dicke Wolke schob sich vor den Mond und glühte weiß und grau am Himmel. »Gib mir die Zügel«, sagte er, und sie reichte sie ihm. Ihr fiel auf, wie achtsam er dabei vermied, ihre Finger zu berühren.
Auf einmal ergab sein Verhalten ihr gegenüber einen Sinn. Sie verstand ihn. Es war nicht so, dass sie ihm weniger bedeutete als seinem Bruder – er zeigte es bloß auf eine andere Weise, innerhalb der Regeln, mit denen er durchaus zu spielen verstand. Die Wahl jedoch überließ er ganz ihr.
Es gibt auf der ganzen Welt keinen Zweiten wie ihn , dachte sie.
»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, melde dich«, sagte er zum Abschied.
»Du wirst mir also nicht den Hals umdrehen?«
»So gerne ich auch würde, nein.«
Dann blieb ihnen nur noch, einander eine gute Nacht zu wünschen, und er ritt davon.
21 Zimt
Leise trat sie ein und ließ ihre Tasche neben die Tür fallen, lauschte auf die Babys oder Geräusche aus Josephines Schlafzimmer. Doch selbst der Wind war verstummt, und die Hütte hockte still in der Nacht. Ein himmlischer Geruch nach süßem Kürbis, Nelken und Honig lag in der Luft. Eine Motte stieß gegen das Glas der Küchenlampe, dann flatterte sie davon, einer anderen Lampe im Wohnzimmer entgegen.
»Leon?«
Sie schloss die Tür hinter sich und ging ins Wohnzimmer. Dort fand sie ihn schlafend am Tisch vor, den Kopf auf die Arme gebettet, das dunkle Haar über den Augen. Vor ihm ausgebreitet im warmen Licht der Lampe lagen die Karten und die Kladde ihrer Großmutter. Anstelle seines Hemds hatte er sich ein graues Handtuch umgelegt, das ihm ein wenig über die Schultern gerutscht war.
Sie hängte ihren Umhang an einen Haken, zog leise die Stiefel aus und schlich auf Socken in die Küche, wo der warme, heimelige Duft noch stärker war und eine beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Leon hatte schon den Abwasch gemacht; eine Schüssel stand umgedreht zum Trocknen neben dem Becken. Sie warf einen Blick in den Ofen und fand darin zwei hohe, goldbraune Kürbisbrote. Mit einem Handtuch als Topflappen nahm sie die Formen aus dem Ofen und stellte sie zum Auskühlen auf die hölzerne Arbeitsplatte.
Als sie das nächste Mal zum Tisch sah, war Leon erwacht und blinzelte ihr müde entgegen.
»Da bist du ja wieder.«
»Dein Brot war fertig«, entgegnete sie.
Er rieb sich die Nase und nickte. »Wir haben leider keinen Zimt. Es ist mir zu spät aufgefallen, deshalb
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