The Forest - Wald der tausend Augen
verharren wir anscheinend für Stunden, unfähig, uns einander anzuvertrauen und alles zwischen uns zu überbrücken.
»Mary«, flüstert er. Ich spüre seine Lippenbewegungen.
Und ich warte darauf, dass er mich von sich stößt und mir sagt, dass wir das nicht tun können. Dass ich nicht ihm gehöre und er mich nicht nehmen darf und dass er seinen Bruder nicht betrügen wird. Ich lege den Kopf an seine Schulter, drücke meine Stirn an seinen Hals.
Der Tag ist warm, er schwitzt und ich berühre seine
Haut mit meinen Lippen und schmecke Salz. Ich will mit ihm verschmelzen, jedes Hindernis zwischen uns vergessen, und nur mit größter Anstrengung schaffe ich es, die Luft anzuhalten und mich nicht noch fester an ihn zu pressen.
Er gehört nicht mir, sondern Cass. Ich sollte mich abwenden und diesen Ort verlassen. Aber dazu bin ich nicht stark genug. Dieses letzte Mal will ich in dem schwelgen, was ihn ausmacht, mich darin einhüllen wie in eine Erinnerung.
Eine Weile bleiben wir so sitzen. Auf seinem Schoß klammere ich mich an ihn und spüre, wie ich mich ganz und gar öffne. Ich bin glücklich. Travis’ Hand legt sich wieder auf mein Haar und ich lehne mich entspannt an ihn und lasse meinen letzten Zweifel los.
Das hier ist der Inbegriff des Frühlings. Die Vögel sind in unser Dorf zurückgekommen, der Schnee ist geschmolzen und die Sonne strahlt milde und warm. Eine Brise umfängt uns und das Geräusch in den Bäumen erinnert mich an das Meer aus Mutters Geschichten.
»In Momenten wie diesen kann man kaum glauben, dass wir nicht die einzigen Menschen auf der Welt sind – wir beide hier oben auf dem Hügel«, sagt Travis. Ich lächele.
Er fährt fort: »Aber dann wieder kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass wir die einzigen Menschen auf der Welt sein sollen. In unserem Dorf, meine ich. Dann denke ich, dass da draußen noch mehr sein muss, dass es hinter dem Wald irgendwas geben muss.«
Ich versuche, meinen Kopf ein Stück zurückzuziehen, damit ich Travis in die Augen schauen kann. Es ist, als habe er mir aus dem Herzen gesprochen, als habe er den Weg in meine Träume gefunden. Ich dachte, ich wäre allein mit meinem Glauben an Leben außerhalb des Waldes. Seine Hand drückt meinen Kopf sanft wieder an seine Schulter, und mein Herz hämmert, als er fortfährt.
»Du bist nicht die Einzige, die mit Geschichten aufgewachsen ist«, sagt er. Ich halte den Atem an und warte auf mehr. »Und sie lassen mich glauben, dass es da drau-ßen mehr geben muss. Dass dies nicht alles sein kann. Es muss im Leben mehr geben als dieses Dorf und seine Erlasse.«
Seine Stimme klingt gepresst, so als würde er auch die Fesseln spüren, die uns voneinander fernhalten. Er legt einen Finger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an. Unsere Blicke treffen sich. »Fühlst du es nicht, Mary? Dass da mehr ist? Dass dieses Leben hier nicht genug ist?«
Tränen steigen mir in die Augen, alles in mir scheint zu singen. Ich schaue zu den Zäunen, als ob ich in unsere Zukunft sehen könnte. Sie sind so weit weg, dass ich die einzelnen Ungeweihten nicht erkennen kann, nur den Mob, der am Maschendraht zerrt. Als der Wind dreht, wird sein Stöhnen den Hügel hinaufgetragen.
Ich will gerade von Gabrielle erzählen, dem Beweis dafür, dass es mehr gibt, als ein roter Blitz zwischen den Bäumen herausschießt. Mein Herz setzt für einen Schlag aus, mir stockt der Atem. Kerzengerade sitze ich da, jeder meiner Sinne ist auf den Wald ausgerichtet.
»Was ist denn?«, fragt Travis. Auch er richtet sich auf.
Ich glaube schon, dass ich halluziniere, doch dann sehe ich den Blitz noch einmal. Ein unnatürlich grelles Rot vor den dunklen Tannen. Ich stehe auf, vergesse die Ruhe und das Glück, das ich eben noch empfunden habe, und stolpere den Hügel hinab, falle über Stöcke und Steine, doch das ist mir egal. Ich schaffe es kaum noch, vor dem Zaun am Fuß des Hügels anzuhalten, und weiche schnell wieder ein paar Schritte zurück, damit ich nicht gebissen und angesteckt werden kann.
Das Rot blitzt wieder auf und kommt dann auf mich zu. Jetzt steht sie am Zaun, mit den anderen. Und man erkennt mit einem Blick, dass sie eine Ungeweihte ist. Ihre Gliedmaßen funktionieren nicht so, als würden sie zu ihrem Körper gehören, die Haut spannt sich, als wollten die Knochen gleich ihr Gesicht durchbohren.
Aber das Rot ihrer aufgeblähten Weste ist immer noch leuchtend und seltsam, und ich weiß, dass sie es ist. Die Außenseiterin. Gabrielle.
Ich
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