The Forest - Wald der tausend Augen
existiert hat. Mit den Fingern fahre ich die Buchstaben entlang und lösche sie völlig aus.
»Was siehst du?«, fragt Cass, die sich neben mich stellt.
»Fragst du dich manchmal, ob der Wald irgendwo zu
Ende ist?« Das habe ich sie früher schon gefragt und ich kenne ihre Antwort.
Sie kichert, jetzt ist sie wieder ganz sie selbst. »Du gibst deine Träumereien wohl niemals auf, Mary«, sagt sie. »Weißt du noch, das Meer … zum Beispiel?«
Ich lächele ein bisschen. Noch immer ist mir nicht ganz wohl in Gegenwart meiner Freundin. Noch immer habe ich Angst vor ihr. »Wahrscheinlich«, sage ich. Aber wenn der Wald kein Ende hat, wo ist Gabrielle dann hergekommen?
Obwohl ich eine Frau bin, die versprochen ist, lebe ich noch immer bei den Schwestern im Münster. Schwester Tabitha erklärt mir, dass mein Bruder nicht willens ist, mich aufzunehmen, aus Rücksicht auf die schwache Gesundheit seiner schwangeren Frau. Aber ich kann mir nicht helfen, ich halte das für einen Vorwand. Schwester Tabitha will, dass ich in ihrer Nähe bleibe, damit sie mich im Auge behalten kann. Sie will sehen, ob ich meine Suche nach Antworten aufgegeben habe.
Das habe ich nicht. In den folgenden Wochen erfinde ich Ausreden, um jeden Wohnraum im Münster zu betreten. Von Gabrielle keine Spur. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.
10
F rühling im Dorf, das bedeutet Regen, Taufen und Hochzeiten. Das bedeutet Edenmess, die Feier, ein weiteres Jahr gelebt zu haben, die Feier des Triumphes über die Ungeweihten und Gebete für die kommenden Jahre. Im Zentrum von Edenmess stehen die Hochzeiten. In unserem Dorf ist die Hochzeit ein heiliger Bund, und die drei Zeremonien, die Mann und Frau verbinden, nennt man Bredenlow – ein einwöchiges Ereignis, das mit dem Treuegelöbnis beginnt, zur Bindung führt und mit den Gelöbnissen Ewiger Beständigkeit endet. Das ist der Höhepunkt der Winterwerbungen, die mit dem Erntefest ihren Anfang nahmen.
Das wichtigste und heiligste Ritual von Bredenlow sind die Gelöbnisse Ewiger Beständigkeit, die das Paar für immer zu Mann und Frau machen. In der Nacht vor den Gelöbnissen findet die Bindungszeremonie statt, bei der die Schwestern die rechte Hand der Braut an die linke des Bräutigams binden, beide verbringen die Nacht dann allein in ihrem neuen Heim. Sie bekommen eine Klinge, die sie benutzen können, um das Band zu zerschneiden.
Das ist eine Gelegenheit, allen Groll zwischen ihnen zur Sprache zu bringen, und ihre letzte Chance, einander als Ehegefährten abzuweisen.
An Edenmess werden in den Tagen zwischen den Bredenlow-Zeremonien auch die Kinder getauft, die aus den Ehen des Vorjahres entstanden sind, und die Empfängnis künftiger Kinder gefeiert. Das ist die heiterste und freudigste Zeit im Dorf, in der wir unser Überleben bekräftigen, unsere Existenz und das Fortbestehen unseres Volkes nach der Rückkehr. Es ist die Verpflichtung zu Beharrlichkeit und Hingabe.
Als eine der einzigen beiden Bräute dieses Jahr bin ich mit einer weißen Tunika bekleidet, die ich an jedem Tag dieser Woche tragen werde. Die ersten Frühlingsblumen wurden in mein Haar geflochten.Wir sind vier, die heiraten und unsere Treue geloben, Harry und ich, Travis und Cass.
Wir stehen in einer Reihe auf dem Podium vor dem Münster, das seine Schatten über uns wirft. Mit Schwester Tabitha an unserer Seite stehen wir unseren Zukünftigen gegenüber, das ganze Dorf schaut von der anderen Seite her zu. Heute ist die Frühlingssonne besonders stark, feuchte Wärme steigt in Wellen aus dem Boden auf und schwängert die Luft, man atmet wie beim Schwimmen.
Schwester Tabitha spricht von Verantwortung.Von Sünden und Leben und Einsatz und Gelübden.Vom Fortbestand des Dorfes, für den wir stehen. Sie erinnert uns an unsere Verletzlichkeit, an die Gefahren, die nicht nur von
den Ungeweihten draußen drohen, sondern auch von innen: Krankheit, Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten. Sie zeigt auf uns vier und spricht davon, dass manche Generationen nicht zahlreich genug herangewachsen sind und es unsere Pflicht ist, unsere Reihen zu stärken und unsere Familien ständig zu vergrößern.
Ihre Worte gehen mir zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, ich kann mich nicht konzentrieren. Andere Gedanken beschäftigen mich. Es ist das erste Mal, dass ich Travis wiedersehe, seit Harry für mich gesprochen hat. Nachdem Travis aus der Obhut der Schwestern entlassen wurde. Nachdem ich im Münster zurückgeblieben bin, weil ich sonst
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