The Forest - Wald der tausend Augen
Geheimnisse halten sie in ihrem Münster unter Verschluss? Was wissen sie von dem Wesen, das einmal Gabrielle war, ein Mädchen wie ich?
Immer wieder kehren meine Gedanken zu dem Tag
zurück, an dem ich mit Schwester Tabitha durch den unterirdischen Tunnel auf die Lichtung im Wald marschieren musste. Könnte mit Gabrielle dasselbe geschehen sein? Am liebsten würde ich zu Schwester Tabitha laufen und sie fragen, was sie gemacht hat, sie fragen, wie es passiert ist. Zuerst schweige ich, weil ich furchtbare Angst habe, so zu werden wie Gabrielle, und dann fangen andere Sorgen an, mich zu quälen: Hätte ich etwas tun können, um sie zu retten? Hätte ich den Mund aufmachen müssen? Oder angestrengter suchen? War ich verantwortlich für ihr Schicksal?
Am Ende gewinnt meine Neugier die Oberhand, ich will unbedingt wissen, was vorgefallen ist, was sie zu einem so schnellen und kraftvollen Wesen gemacht hat, das so anders ist als die Ungeweihten, die ich bisher gesehen habe.
In den wenigen Tagen, die noch verbleiben, ehe ich an Harry gebunden werde, schleiche ich im Münster herum, während ich meine Arbeiten erledige. Ich bleibe vor geschlossenen Türen stehen, lausche Gesprächen unter den älteren Schwestern, denen, die ich für die Hüterinnen der Geheimnisse halte.
Aber ich erfahre nichts von Bedeutung. Frustriert darüber, dass mir die Zeit davonläuft, fange ich an, Bereiche zu erkunden, zu denen der Zugang verboten ist. Ich teste die Grenzen der Schwesternschaft und des Münsters, wohl wissend, dass ich, falls ich erwischt werde, in den Wald hinausgeworfen werden könnte, um in Gabrielles Fußstapfen zu treten.
Aber meine Waghalsigkeit lässt mich völlig kalt, denn jeder Tag, der vergeht, ist ein weiterer Tag, an dem Travis mich nicht holen kommt. Immer verzweifelter wünsche ich mir zu verstehen, was passiert ist. Ich will unbedingt alles wissen: Warum wir hier sind, wer die Schwestern sind, was die Ursache für die Rückkehr war.
Alles Fragen, über die wir nie nachdenken durften, Fragen, denen nachzugehen uns verboten war.
Mein Kopf ist voll von diesen Fragen. Wenn ich beim Gottesdienst knie oder an den Bredenlow-Feierlichkeiten teilnehme, habe ich so ein rebellisches Gefühl, ich mache mir Gedanken, wie ich an den Schwestern vorbeikomme, wie ich mich unbemerkt an ihnen vorbeischleichen kann.Wie ich Zugang zum verbotenen Allerheiligsten des Münsters erhalten kann.
Aber als meine letzte Nacht allein anbricht, die Nacht vor der Bindungszeremonie mit Harry, bin ich der Wahrheit trotzdem keinen Schritt näher. Ich habe nichts gefunden, das auf einen Zusammenhang zwischen den Schwestern und Gabrielles Rückkehr hindeutet. Nichts, das die Mittäterschaft der Schwestern beweist. Ich sitze auf der Bettkante, kralle meine Hand in den Morgenmantel und starre aus dem offenen Fenster auf den Wald. Habe ich denn alles missverstanden? Waren meine Fragen völlig sinnlos?
Haben die Schwestern recht und ihr Weg ist der einzige Weg? Ihre Wahrheit die einzige Wahrheit? Und unser Dorf das einzige Dorf, das es noch gibt auf der Welt? Und hat meine Mutter sich geirrt und es gibt gar kein Meer?
Ich beiße die Zähne zusammen und möchte laut schreien, so frustriert und verwirrt bin ich. Wie soll ich das alles verstehen?
Vor Anspannung kann ich die Beine nicht ruhig halten, ich springe vom Bett auf und gehe im Zimmer auf und ab. Um mich herum bereitet sich das Münster ruhig auf die Nacht vor. Doch in meinem Kopf findet ein Kampf statt. Soll ich nun mein Zimmer verlassen und mich zu einer letzten Suche aufmachen oder bleiben, wo ich bin? Soll ich das Schicksal und den Zorn der Schwestern lieber nicht herausfordern und darauf warten, dass Travis kommt und Anspruch auf mich erhebt, wie er es versprochen hat?
Aber dann denke ich an Gabrielle da draußen, die sich gegen die Zäune wirft. Und ich frage mich, ob meine Mutter wohl auch da draußen ist. Ob sie die Antworten kennt, die ich suche, jetzt, da sie auf der anderen Seite ist?
Mit dem Anzünden der Kerze halte ich mich nicht auf, als ich das Zimmer verlasse. Auch nicht damit, an Türen zu lauschen, während ich durchs Münster gehe, an Wänden entlanghusche und mich die staubige Treppe in den Keller hinunterschleiche. Ich folge dem Weg, den ich mit Schwester Tabitha gegangen bin, und erinnere mich an den Tag, an dem sie mich an jenen Ort brachte, von dessen Existenz ich nichts ahnte, um mich etwas über Entscheidungen zu lehren. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten
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