The Forest - Wald der tausend Augen
nirgendwo hingehen konnte.
Sein Haar ist heller, blonder, so als hätte er seine Nachmittage draußen in der Sonne verbracht. Er hat zugenommen, seine Haut spannt sich nicht mehr so über seinen Wangenknochen. Seine Augen sind strahlender, grüner und nicht mehr tief in den Kopf eingesunken. Er sieht gut aus. Gesund.
Es tut mir weh, ihn zu sehen. Und ich muss mich furchtbar zusammenreißen, ruhig vor Harry stehen zu blieben, statt mich an Travis zu pressen, der hinter meinem Rücken Cassandra gegenübersteht.
Schwester Tabitha redet weiter von den Pflichten, die wir voreinander und vor Gott haben, aber ich kann mich nur auf die Luftbewegungen konzentrieren, die Travis verursacht, wenn er sich auf seinen Stock stützt und kaum merklich sein Gewicht verlagert, damit er bequemer stehen kann.
Es ist gut, ihn stehen und gehen und gesund zu sehen. Aber ich hasse sein Lächeln – ich fühle mich elend.
Als Schwester Tabitha zum Gelöbnisteil der Zeremonie kommt, drehen wir uns alle zum Altar um. Harry steht links von mir, Travis rechts. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir vorstellen, dass ich Travis mein Versprechen gebe, Travis, der mich am Ende der Woche mit nach Hause nehmen wird zu unserem neuen Leben.
Wir wiederholen die Worte von Schwester Tabitha, die uns durch unser Gelübde führt. Und gerade als wir uns gegenseitig unser Gelöbnis geben, versprechen, uns am Ende der Woche ewig zu binden, spüre ich, wie Travis’ Finger meine Hand streifen. Ich will sie greifen, aber da ist nichts als Luft.
Jetzt bin ich Harrys Verlobte und er führt mich vom Podium, aus den Schatten des Münsters und ins Sonnenlicht. Wir werden von Gratulanten umringt und ich kann Travis in der Menge nicht mehr sehen.
Ich habe ihn endgültig verloren.
Die Bredenlow-Woche saust schwindelerregend dahin. Bei jedem Ereignis sind wir vier die Ehrengäste, wir sitzen vom Rest des Dorfes getrennt, wie Ausstellungsstücke. Wir werden von einer Veranstaltung zur nächsten gehetzt. Festessen, die der Bedeutung des Anlasses ein Zeichen setzen. Einzelgebete, die unsere Seelen auf die bevorstehende Verschmelzung vorbereiten sollen.
Doch abgesehen vom Treuegelöbnis, der Bindung und dem Gelöbnis Ewiger Beständigkeit, ist die Taufe das größte Ereignis in dieser Woche. Jedes Baby wird den Schwestern und den Wächtern vorgestellt und dann unter den Leuten aus dem Dorf herumgereicht. Diese Kinder gehören uns allen, sagen die Schwestern, sie sind unsere Zukunft.
Vier Kinder, die aus den Ehen vom letzten Jahr entstanden sind, werden getauft, und ich muss zusehen, wie Jed und Beth versuchen, sich aus der Menge wegzustehlen. Ob der Schmerz über den Verlust ihres Kindes im Herbst wohl zu schwer zu ertragen ist?
Mitte der Woche bin ich endlich einmal allein und ich reiße mir die Blumen aus dem Haar. Ich habe genug von den Dörflern, genug von Harry und den Schwestern, den Wächtern und den Gratulanten. Ich habe genug vom Glück. Und deshalb gehe ich auf den alten Aussichtsturm auf dem Hügel, dem einzigen Ort, an dem ich ganz bestimmt Einsamkeit finden werde.
Doch als ich dort ankomme, ist schon jemand da, ich will gerade umkehren, da erkenne ich die Gestalt, die am Turm lehnt. Es ist Travis. Ich spüre ein Flattern im Bauch. Nie hätte ich gedacht, dass er hierherkommen könnte, dass irgendjemand außer mir jemals hierherkommen könnte.
Es ist schon so lange her, seit wir allein zusammen waren, dass ich ihn nur mit hungrigen Augen anstarren kann. Einen Moment lang denke ich daran, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder nach Hause zu gehen.
Ich will ihn hier sitzen lassen und die Versuchung weit weg schieben. Er gehört mir nicht, er kann mir nicht gehören, und es tut mir zu sehr weh, in seiner Nähe zu sein, weil ich weiß, dass daran nichts zu ändern ist.
Aber bevor ich mich rühren kann, streckt Travis mir die Hand hin und sagt: »Komm, Mary, bete mit mir.«
Seine Worte sind mein Verderben. Ich renne, stolpere über mein Kleid, krieche und robbe über den Boden, bis ich an seiner Seite bin. Meine Hände liegen auf seiner Brust, ich atme keuchend.
»Oh Mary«, sagt er, fährt mir mit der Hand durchs Haar und hält meinen Kopf. Er zieht mein Gesicht an seines heran, über alles Trennende hinweg. Ich brauche ihn mit einer Dringlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann.
Als unsere Lippen sich berühren und endlich wissen, wo sie hingehören, hält er meinen Kopf fest. Er keucht und ich kann nur die Luft aus seinen Lungen atmen. So
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