The Forest - Wald der tausend Augen
will meine Finger durch den Maschendraht stecken. Doch hinter mir humpelt Travis heran und hält mich zurück.
»Was machst du da?«, zischt er nach Luft ringend. Er geht am Stock und zieht ein Bein nach. Plötzlich wird mir klar, wie viel Anstrengung es ihn gekostet haben muss, mir so schnell den Hügel hinabzufolgen.
Gabrielle flitzt um die anderen Ungeweihten herum. Sie ist wie sie, aber irgendwie anders. Geschmeidiger. Schneller. Sie wirft sich mit einer Geschwindigkeit und einer Unersättlichkeit
gegen den Maschendraht, wie ich sie vorher noch nie gesehen habe. Ich stehe mit Travis auf unserer Seite des Zaunes und weiß nicht, was ich fühlen oder tun soll.
»Das machst du nie wieder«, flüstert Travis mir ins Ohr, dann legt er mir die Arme um die Schultern und zieht mich an sich.
Ich will nichts lieber als loslassen, mich von ihm umschlingen, aufnehmen und beschützen lassen. Jeder Herzschlag erschüttert meinen Körper, meine Hände zittern. »Sie war das, in dem Zimmer neben dir«, sage ich und zeige auf Gabrielle. »Die Außenseiterin, die in der Nacht ins Dorf gekommen ist, in der ich in deinem Zimmer war.« Mir steigt die Hitze ins Gesicht, als ich mich daran erinnere, wie sich sein Körper unter mir angefühlt hat.
Wir beobachten, wie das Mädchen ganz wild nach uns am Maschendraht zerrt. Irgendwas stimmt überhaupt nicht mit ihr, noch nie haben wir so eine Ungeweihte gesehen.
»Einmal hat sie durch die Wand mit mir gesprochen«, sage ich. »Du warst verlegt worden, ich habe dich gesucht. Da hat sie mir erzählt, dass sie Gabrielle heißt.« Mein Hals brennt, und ich schlucke das Schluchzen hinunter, das sich Bahn zu brechen droht. Ich kann einfach nicht fassen, was diesem Mädchen passiert ist, das sich über die Pfade im Wald und in unser Dorf gewagt hat.
Tränen laufen mir übers Gesicht und ich drehe mich zu Travis um. »Hat sie dir irgendwas erzählt?«, flüstere ich.
»Hat sie dir erzählt, wo sie herkommt? Warum sie in unser Dorf gekommen ist?«
»Oh Mary«, sagt er.
Und dann treffen sich unsere Lippen und ich bin still.
Ich erinnere mich an das Wunder meines beinaheersten Kusses von ihm in jener Nacht vor langer, langer Zeit. Das ist die Nacht gewesen, in der Gabrielle durch das Tor gekommen ist. Die Zeit, in der keiner von uns beiden etwas über das Draußen wusste und nichts außer uns beiden in jenem Zimmer zählte. Mein Herz hämmerte und mein Körper war bereit zu allem und jedem. Seitdem habe ich andere Küsse bekommen. Freundliche Küsse. Alle von Harry. Alle in unserer verkürzten Zeit der Werbung. Außer Harry habe ich noch nie jemanden geküsst.
Aber dieser Kuss mit Travis ist wie aufzuwachen, wie geboren werden, wie zu merken, was das Leben ist und sein kann. Ich ertrinke in ihm, Strudel ziehen mich in die Tiefe und wirbeln mich herum, als wäre ich nichts.Wertlos, aber alles, was ist.
Das Geräusch der Zäune, die unter Gabrielles Ansturm wanken, bringt uns auseinander. Noch ruht seine Stirn an meiner.
»Wir sollten es jemandem sagen«, sage ich.
Er nickt.
»Das mit ihr«, ergänze ich
Er lächelt. »Das auch«, sagt er. Ich kann nicht anders, ich lächele ebenfalls.
Wie eine der Blumenzwiebeln, die schlafend unter der
Erde liegen, komme ich mir vor, es ist, als ob ich endlich sprießen könnte. Warm werde. Freude keimt in mir auf und breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Ich habe das Entsetzen darüber verdrängt, Gabrielle zur Ungeweihten gewandelt zu sehen, ich habe es tief in mein Innerstes verbannt, damit es mir die Freude am Augenblick nicht verdirbt.
»Ich bin schneller als du«, sage ich. »Ich laufe los und sage es den Wächtern. Sie werden es wissen wollen.« Ich zögere. Ich denke an das Versprechen, das ich Cass gegeben habe, und Schwester Tabitha, Harry und mir selbst. Ich denke darüber nach, was es bedeutet, solche Versprechen zu halten, und an alles, was ich aufgeben werde. Ich habe versucht, die Regeln des Dorfes zu befolgen, ebenso wie die Erlasse der Schwesternschaft, die mir nichts als Verwirrung, Rätsel, Lügen und Schmerz gebracht haben.
Ich habe geglaubt, ich könnte Travis loslassen. Ich habe geglaubt, ich könnte in Zufriedenheit leben. Aber das war, ehe er mir erzählt hat, dass er an eine Welt außerhalb der Zäune glaubt. Ehe mir klar war, dass er mit Geschichten über etwas Größeres jenseits von uns, über mehr , aufgewachsen ist.
Als ich vor Travis stehe und ihn auf meinen Lippen schmecke, beschließe ich, alles andere
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