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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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gewähren, damit sie sehen können,
ob das Dorf den Angriff abzuwehren vermochte. Aber dann werde ich diesem Pfad folgen. Allein, wenn es sein muss.

    Irgendwann in der Nacht fängt es an zu regnen. Auf Travis’ Rat hin ist unsere kleine Gruppe ein Stück weiter den Pfad hinuntergegangen, und hier ist es zu eng, um dicht aneinandergedrängt der Kälte und Nässe zu trotzen. Travis und Harry sitzen nebeneinander, Harry dem Tor am nächsten, denn er ist als Einziger im Besitz einer Waffe.
    Ich sitze am anderen Ende der Reihe, Argos hat mir seinen Kopf aufs Knie gelegt und ich zupfe ihm an den Ohren und schmiege meine Hand in sein weiches Fell. Cass sitzt mit Jakob auf dem Schoß neben uns. Ihr Haar ist wirr, es hat sich aus dem Zopf gelöst, und im Dunkeln sieht es aus, als trüge sie einen Heiligenschein. Jakob ist vor einer Weile in einem tiefen Schlaf erschlafft, aber Cass wiegt ihn immer noch und summt, zu ihrem eigenen Trost ebenso wie zu seinem.
    Travis und Harry murmeln nach wie vor miteinander. Travis’ heller Kopf beugt sich über den dunklen Schopf von Harry, während die beiden flüsternd zu beschließen versuchen, was als Nächstes zu tun ist. Der Regen beeinträchtigt die Fähigkeit der Ungeweihten, uns zu wittern. Einige haben sich von den Zäunen links und rechts zurückgezogen und sind wieder in den Wald verschwunden.
Es ist eine willkommene Erleichterung, ihr niederschmetterndes Gestöhn nicht mehr hören zu müssen, obwohl ich, wenn der Wind dreht, noch immer das letzte Keuchen der Schlacht im Dorf vernehmen kann. Gleich am Ende des Pfades.
    Die Ungeweihten sind sture, zielstrebige Gegner, die niemals schlafen. Ich weiß, dass die Dörfler den Regen für ihren Angriff nutzen werden. Der Geruch nach Menschenfleisch wird von der Feuchtigkeit abgetötet und die Ungeweihten finden nicht so leicht Opfer.
    Ab und zu erheben Harry oder Travis ihre Stimmen, dann regen sich die Ungeweihten draußen im Wald. Jedes Mal zischt Cass den beiden zu, sie mögen doch ruhig sein, und einmal, als einer der Ungeweihten hinter ihr seine Finger durch den Draht steckt und Rost auf den Boden rieselt, fängt sie an zu wimmern.
    Ich möchte meinen Arm um sie legen, aber es ist zu eng hier und mit Jakob auf ihrem Schoß ist das auch nicht bequem.
    »Irgendwo ist der Wald zu Ende, Cass«, versuche ich, sie zu trösten. »Es gibt ein Ende, ein Draußen – da drau-ßen gibt es noch mehr.«
    »Na und?«, sagt sie mit zitternder Stimme.
    »Willst du nicht wissen, was auf der anderen Seite ist?«, frage ich sie. »Und das Meer sehen? Willst du nicht wissen, dass es mehr gibt? Und einen Ort finden, der von all dem hier nicht berührt ist?« Ich zeige auf einen dünnen Ungeweihten, der am Zaun kratzt. Es ist jedoch so dunkel, dass Cass mich vermutlich nicht mal sehen kann.

    »Das Meer war schon immer dein Traum, Mary. Nicht meiner.« Einen Moment lang ist es still, dann spüre ich plötzlich eine Hand auf meiner Wange. Ich zucke zurück, weil ich damit nicht gerechnet hatte, aber sie drückt weiterhin ihre kalte Haut an meine. Ihre Fingerspitzen sind schrumpelig vom Regen.
    »Nur so können wir es schaffen«, sage ich. »Nur so hat Jakob Aussicht auf ein Leben.«
    »Unser Platz ist im Dorf. Jakobs Platz ist bei seinen Eltern«, sagt sie.
    Ich möchte sie schütteln, vergrabe stattdessen aber meine Finger in Argos’ Fell.
    »Begreifst du es denn nicht? Alles hat sich verändert«, sage ich. »Jakobs Eltern haben vielleicht nicht mal überlebt. Nichts wird mehr wie früher sein.«
    Sie nimmt die Hand von meiner Wange und hält mir damit den Mund zu. »So was will ich nicht hören«, sagt sie mit ruhiger, ernster Stimme. »Begreifst du es denn nicht? Wenn wir glauben, dass das Dorf weg ist, heißt das, alle sind tot, die wir kennen. So leicht werde ich sie nicht aufgeben. Und du solltest das auch nicht tun.«
    Ihre Hand gleitet von meinem Gesicht. Ich höre, wie sie den Jungen auf ihrem Schoß zurechtrückt, höre, wie er stöhnt und dann wieder in einen traumlosen Schlaf sinkt. Jetzt tröpfelt es nur noch. Neben uns hat sich noch ein Ungeweihter zu dem ersten gesellt, das Stöhnen hat ihn angelockt. Es ist zu dunkel, um irgendwas zu erkennen, aber ich höre ihre Finger am Draht kratzen. Höre die Verzweiflung.

    Wessen Hände mögen das einmal gewesen sein? Welche dieser Hände haben einst einem kranken Kind den Kopf gestreichelt? Welche dieser Hände haben die Lippen eines Geliebten berührt oder wurden einst zum Gebet gefaltet?

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