The Forest - Wald der tausend Augen
gestern Nacht erzählt habe.« Ich schlage gegen das Tor, will so viel wie möglich spüren, um mir zu beweisen, dass ich noch lebe. »Gabrielle. Das Mädchen, das den Pfad entlanggekommen ist. Sie war es, die das hier ausgelöst hat. Sie war der Grund …«
»Mary, was redest du da?« Seine Stimme hat etwas Schneidendes, so als könnte er jeden Moment zusammenbrechen.
In mir scheint etwas zu zerreißen, alles zersplittert auf einmal. »Begreifst du denn nicht? Sie haben ihr das angetan! Die Schwestern sind dafür verantwortlich und …«
Harry löst meine Finger vom Zaun und zieht mich an sich. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
Ich wehre mich, ich will nicht getröstet werden, wenn Wut und Angst in meiner Magengrube verschmelzen. »Aber wenn die Wächter nun etwas damit zu tun haben, dass …«
»Ich habe gesagt, das spielt jetzt keine Rolle mehr,
Mary!« Seine Stimme erschüttert meinen ganzen Körper. »Was geschehen ist, ist geschehen, und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen.«
Ich senke den Kopf. Ich weiß, ich sollte ihn nicht drängen, aber ich kann nicht anders. »Aber es beweist …«
»Nein!«, brüllt er. Seine Nasenflügel blähen sich und er atmet tief ein, schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Als er dann wieder spricht, hat er seine Worte sorgfältig abgewogen und sich zusammengerissen. »Es beweist gar nichts. Nur dass die Zäune durchbrochen worden sind und unser Dorf angegriffen wird. Und wir sind nicht da und können ihnen nicht helfen.«
Ich schaue zurück zum Dorf. Gestalten laufen dort herum, aber ich kann nicht sagen, ob es Lebende oder Ungeweihte sind. Ich kann nicht sagen, ob das ein Scharmützel, eine Schlacht oder ein Krieg ist. Ich meine, wieder einen roten Blitz zu sehen, aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht täusche ich mich auch.Vielleicht sehe ich nur, was ich sehen will.
Aber dann bewegt sich jemand aus dem Nebel auf uns zu. Zwei Leute nähern sich. Ich weiche einen Schritt zurück. Sind das noch mehr Ungeweihte? Stehe ich jetzt auf der Waldseite und fürchte mich vor dem Dorf?
Die Gestalten bekommen Konturen und ich erkenne Travis an seinem Humpeln.
16
W ir vier können in einer Reihe stehen – ich und Harry, Travis und Cass -, so breit ist der Pfad auf der anderen Seite des Tores. Manchmal berühren sich unsere Schultern, während der Nebel sich lichtet und wir uns wirklich ein Bild davon machen können, welches Chaos in unserem Dorf herrscht.
Das Seltsamste an einer Invasion der Ungeweihten ist, dass keine Toten auf dem Boden herumliegen. Sie stehen alle auf und schließen sich den Feinde an oder werden gefressen. Ein ums andere Mal sehen wir, wie Freunde und Nachbarn niedergestreckt werden, nur um wenig später zurückzukehren und weitere Freunde und Nachbarn zur Strecke zu bringen.
Ich stehe zwischen Harry und Travis. Cass ist an Harrys anderer Seite. Hinter uns hat sich Jakob zusammengekauert und die Arme um die Knie geschlungenen. Sein ganzer Körper zuckt, er versucht, sein Schluchzen zu unterdrücken. Ab und zu setzt sich Argos neben Jakob, winselt und leckt ihm das Gesicht. Aber Jakob merkt das nicht und Argos kommt wieder zu mir und jault.
Neben mir rührt sich Travis, seine Handknöchel streifen meine Hand, wir schlingen unsere kleinen Finger ineinander. Als er meine Hand nimmt, werden meine Knie weich vor Erleichterung. Denn mit diesem einfachen Zeichen gibt er zu verstehen, dass er hier in Sicherheit ist. Dass wir alle noch wohlbehalten sind. Die Gedanken, die sich in der letzten Nacht in meine Träume eingeschlichen haben, stampfe ich in den Boden: dass Travis mich nie geholt hat. Dass er nie etwas für mich empfunden hat. Dass er mich nicht gewollt hat.
Sein Daumen streicht über meinen Puls und er erstarrt. Mit den Fingern fährt er an dem Band entlang, das um mein Handgelenk geknüpft ist. Zerrupft und schmuddelig ist es nun. Das ist das Band, mit dem Harry und ich gestern Abend zusammengebunden worden sind.
Travis zieht seine Hand zurück. Sofort vermisse ich sie. So muss es sein, wenn man Gliedmaßen verliert. Furchtbar, wenn das Fehlende noch so quälend präsent ist.
Ich möchte mich ihm zuwenden, mit ihm reden. Aber wenn Harry so dicht bei mir steht, kann ich die Worte nicht über die Lippen zwingen. Und vor uns stirbt das Dorf.
»Meint ihr, wir sollten hingehen und ihnen helfen?«, fragt Harry.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich sein Griff um die Axt spannt und wieder lockert. In seiner
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