The Forest - Wald der tausend Augen
wobei der Nebel ihre kämpfenden Körper umwabert.
Ich spüre das Wimmern in meiner Kehle aufsteigen und presse mir die Hand auf den Mund, weil ich weiß, dass ich keine Aufmerksamkeit erregen darf, denn es könnte ja sein, dass das Ding, das mal Gabrielle war, sich schon bald ein neues Opfer sucht. Die Ungeweihten zögern nie, frische Beute im Stich zu lassen, wenn sie ein neues lebendes Opfer zur Strecke bringen können. Es liegt in ihrer Natur, vor allem zu töten und zu infizieren.
Die Welt um mich herum scheint sich nun immer schneller zu drehen, plötzlich wird mir ganz schwindelig, alles ist in Bewegung. Die Leitern der Plattformen sind alle hochgezogen oder weggeschoben worden. Das Münster ist verschlossen. Es gibt kein Wohin mehr.
Außer dem Pfad, fällt mir ein. Außer dem Tor, durch das Gabrielle vor so vielen Wochen ins Dorf gekommen ist. Damals, als sie noch gesund war.
Ich drehe mich um und renne los, Harry ist hinter mir.
Zu viele Füße scheinen uns zu folgen. Bestimmt jagt Gabrielle hinter uns her. Als wir uns dem Tor nähern, fängt die Sirene wieder an zu heulen und macht die Dörfler auf das aufmerksam, was ich bereits weiß: Die Plattformen sind besetzt, diejenigen, die sich noch am Boden befinden, müssen woanders Zuflucht suchen.
Die Zäune beulen aus, wo sich die Ungeweihten, die noch keinen Weg hinein gefunden haben, gegen den Draht pressen. Der Geruch nach frischem Blut macht sie rasend vor Hunger. Mit ungeschickten Fingern fummele ich am Riegel des Tores, dann drückt Harry sich von hinten gegen mich und atmet mir heiß und hastig ins Ohr.
Endlich gibt der Riegel nach und Harry schiebt uns mit solcher Kraft durch das Tor, dass ich stolpere und auf den Pfad falle. Meine Handflächen brennen. Ich drehe mich um, als Argos durchschlüpft. Dann schlägt das Tor laut zu und Gabrielle kracht dagegen. Ihr Mund steht offen, Blut rinnt ihr übers Kinn.
Ich schließe die Augen und halte den Atem an, lasse den Sirenenton durch meinen Körper pulsieren und bin zum ersten Mal dankbar dafür, dass dieses Geräusch so gewaltig ist, dass es mich ganz und gar erfüllt und alle anderen Sinne ausschaltet. Ich will jetzt nicht sehen. Noch hören, fühlen oder riechen.
Aber mein Körper schreit förmlich nach Luft und der Gestank des Todes dringt in mich ein. Ich komme wieder auf die Beine und gehe zurück zu dem Tor, durch das wir gekommen sind. Harry will mich zurückhalten, aber ich stoße seine Hand von meiner Schulter. Eine Armeslänge
entfernt gehe ich nicht weiter. Ich stehe Gabrielle gegenüber.
Ich schaue dem Tod ins Auge.
Alle ihre Finger sind gebrochen, einige Knochen haben die Haut durchbohrt. Ihre Arme sind zerfetzt, und doch stürzt sie sich mit einer Leidenschaft auf mich, die erst enden wird, wenn ihr Körper so verbraucht ist, dass er nicht mehr aufrecht stehen kann, selbst dann wird sie noch vorwärtskriechen.
Wieder bricht das Heulen der Sirene ab. An seine Stelle tritt das Klappern des Zaunes, gegen den Gabrielle sich ein ums andere Mal wirft, ihre kaputten Zähne schlagen aufeinander, als ihre Kiefer voller Erwartung zuschnappen. Aber ihre Augen sind noch klar, das ist die Klarheit jener, die noch nicht lange zu den Ungeweihten zählen. Und sie starrt mich an, als wäre ich ihre einzige Rettung.
Mir geht auf, dass ich auf dem Pfad stehe, den sie gekommen ist, und dass sie jetzt auf der anderen Seite des Tores gefangen ist. Ich möchte sie fragen, wer sie ist, woher sie kommt und was sie von mir will. Warum wir an diesem Ort verbunden sind.
Aber dann hebt sie den Kopf, als wollte sie Witterung aufnehmen. Aus dem Augenwinkel heraus scheint etwas ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und da schießt sie auch schon zum Dorf zurück. Zurück in den Nebel und zu meinen Freunden und Nachbarn. Zurück dahin, wo sie Nahrung findet.
Harry packt mich und will mich den Pfad hinunterdrängen. Argos springt um uns herum, bellt und knurrt
die Ungeweihten an, die sich von beiden Seiten gegen die Zäune drücken. Aber ich weigere mich, will nicht einen Schritt weitergehen. Stattdessen stecke ich meine Finger durch den Draht, wo Gabrielle eben noch stand, und blicke durch den Morgendunst zurück auf unser Zuhause.
»Das war sie«, flüstere ich. Mein Körper fühlt sich ganz taub an, als ob er nicht mehr ertragen kann und dichtmacht.
Harry zerrt an meinem Arm, will mich fortziehen, damit ich nicht länger auf das Gemetzel im Nebel starre. »Wovon sprichst du, Mary?«
»Das war sie, von der ich dir
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