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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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Freunde,Verwandten und die sterben, die wir lieben, doch nie sind wir auf unseren eigenen Tod gefasst. Nie sind wir darauf vorbereitet, uns mit unserer eigenen Reue auszusöhnen.
    Tränenblind rase ich den Pfad hinunter. Als ich die Gruppe wieder erreicht habe, gehe ich schnurstracks auf Harry zu und halte ihm meinen Arm hin. Das Band, mit dem wir gebunden wurden, baumelt schmuddelig herunter. »Schneid es durch«, befehle ich. »Mit der Axt.«
    Er nimmt meine Hand und zieht das Band von der zarten weißen Haut der Innenseite meines Handgelenks weg. Die Schneide der Axt ist kalt und scharf und geht leicht durch das dünne Geflecht.
    Harry hält meinen Unterarm noch, als die Fetzen der komplizierten Bindung auf den Boden fallen. Ich spüre, wie er mich ein wenig zieht, aber ich widersetze mich. Dann führt er mein Handgelenk an seinen Mund und küsst die vom Band aufgescheuerte Haut. Als er mich loslässt, sieht er nicht mich an, sondern seinen Bruder. Und zwar mit einem kleinen besitzergreifenden Lächeln im Gesicht.

    Es scheint kein Ende zu geben. Morgens lecken wir den Tau von den Blättern. In der Hitze des Tages versuchen wir, Schatten zu finden, und schlafen, um Kraft zu sparen. Aber wir sterben langsam. Unsere Schritte werden flach und lahm. Travis’ Hinken verschlimmert sich, er scheint
nur noch die Kraft zu haben, das Bein hinterherzuziehen. Argos trottet hinter uns her, längst schon springt er nicht mehr zum Auskundschaften voran, er keucht, denn das Weiterleben ist anstrengend.
    Eines Nachmittags, zwei Tage nachdem wir Beth beerdigt haben und fünf Tage nach dem Durchbruch, grollt ein Gewitter. Wir geraten völlig aus dem Häuschen vor Aufregung. Aber es tröpfelt nur, gerade so viel, dass unsere Kleider und Zungen feucht werden, aber ganz und gar nicht genug, um die Wasserschläuche zu füllen.
    Wir leben kaum noch. Mit jedem Schritt werden wir den Ungeweihten ähnlicher, die auf der anderen Seite des Zaunes neben uns herlaufen. Manchmal frage ich mich schon, worin eigentlich der Unterschied zwischen uns besteht.
    Im Laufe der Tage merke ich, wie die Verantwortung immer schwerer auf meinen Schultern lastet.Travis’ Frage geht mir nicht aus dem Sinn: Sind wir die einzigen Überlebenden? Und wenn ja, habe ich uns getötet, als ich darauf bestanden habe, weiter durch den Wald zu laufen? Hätten wir das Blatt in der Schlacht wenden können, wenn wir ins Dorf zurückgekehrt wären? Hätten wir zurückkehren und eine andere Abzweigung des Pfades wählen sollen?
    Und bin ich verantwortlich für das Ende der Menschheit?

    Zehn Tage nach dem Durchbruch, während die Morgensonne den Nebel wegsengt, erreichen wir eine weitere Weggabelung. Dieses Mal ist es nicht einfach nur eine Verzweigung, wir kommen auf eine quadratische Lichtung, mit unterschiedlichen Toren auf jeder Seite. Cass sinkt auf den Boden, sie zieht Jakob an sich und bietet ihm ihre letzte Ration an, Essen, das sie nicht selbst gegessen, sondern für ihn aufbewahrt hat.
    Sie macht die Augen zu, lässt ihre hohle Wange auf seinem Kopf ruhen und schiebt ihm ein kleines Stück Trockenfleisch in den Mund.
    Ich weiß nicht mehr, wie viele Weggabelungen wir hinter uns gelassen haben. Zuerst habe ich versucht, alles im Kopf festzuhalten wie auf einer Landkarte. Ich wollte mir merken, welche Pfade mit welchen Buchstaben markiert waren. Und ich habe die Tage damit verbracht, beim Wandern zu versuchen, die Puzzleteile zusammenzufügen und das Muster zu erkennen.
    Aber dann fing ich an zu vergessen, die Bilder, die ich von jedem Pfad, von jedem Metallschildchen gespeichert hatte, wurden nach und nach immer undeutlicher und verblassten. Manchmal glaubte ich schon, dass die Buchstaben sich immerzu wiederholten. Und dass wir am Ende Pfade queren würden, die wir schon gegangen waren, wie in einem richtigen Labyrinth.
    Ich bin bereit aufzugeben. Die Niederlage einzugestehen. Ihnen von Gabrielles Buchstaben zu erzählen und um Vergebung zu bitten, weil ich uns an diesen Ort gebracht habe … da liest Harry die Buchstaben der Tore
vor, wie an jeder Gabelung, an die wir bisher gekommen sind.
    »X-X-X-I«, sagt er, bevor er sich zur nächsten Markierung schleppt. »X-I-X«, sagt er. »Und dann noch: X-I-V.«
    Mit einem Ruck geht mein Kopf hoch. Das Herz hämmert in meiner Brust, als ob ich nach langer Zeit unter Wasser auftauche. Ich stolpere zu Harry hinüber, der am letzten Tor lehnt und durch den rostigen Draht den Pfad hinunterschaut.
    Ich streiche mit der Hand

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