The Forest - Wald der tausend Augen
Travis, der in meine Richtung gehumpelt kommt. Keiner von uns sagt ein Wort, als er sich neben mich setzt, das schlimme Bein gerade ausstreckt und mit beiden Händen die Stelle massiert, an der mal der Knochen rausragte.
Ich lege den Kopf auf seine Schulter und er küsst mich auf die Stirn. Das soll, da bin ich mir sicher, nur eine zärtliche Geste sein. Damit ich weiß, dass er immer noch für mich da ist. Aber seine Lippen zu spüren, geht mir durch Mark und Bein. Das Gefühl verschmilzt mit der Stille und es gibt nur uns – keinen Tod, keine Verantwortung.
Verlangen kann man das schon nicht mehr nennen. Ich begehre Travis mit einer Heftigkeit, die ich noch nie erlebt habe. Nur mit ihm.
Mein Rock raschelt, als ich mich aufsetze und mich auf einem Knie zu ihm drehe. Mit großen Augen schaut er den Pfad hinunter. Ich nehme sein Kinn in die Hand und zwinge ihn, den Blick wieder auf mich zu richten.
Die Luft ist dumpf, ich atme ein, fasse seine Schultern, presse mich so nah an ihn, wie ich kann, und presse, presse, presse immer weiter. Zwischen uns sind zu viele Lagen Kleidung, ich bin wütend über all das, was uns trennt, und weil ich ihn, sein ganzes Wesen, nicht total und sofort verzehren kann. Einen Moment lang verstehe ich das Verlangen der Ungeweihten, ihr Bedürfnis nach dem Fleisch einer lebendigen Seele.
Seine Hände fahren durch mein Haar, seine Lippen sind nah, ach, so nah. Erinnerungen und Zweifel und Ängste überfallen mich, und ich stoße sie von mir, damit ich nur hier und nur jetzt bin.
Wir atmen unseren Duft ein, schnappen nach Luft, nach mehr voneinander. Und dann streifen mich seine Lippen. Sanft, zart, wie ein Blatt, das aufs Wasser fällt.
Er nimmt meine Hände und dann spüre ich sein Zögern. Spüre seine Finger auf dem Band, das mir immer noch vom Handgelenk baumelt.
Er lässt mich los, seine Lippen lösen sich von meinen und ich fühle heiße Tränen auf meinen Wangen. Ich kann es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Und zu wissen, was er sich fragt.
Er rückt von mir ab und steht auf. Das ist, als würde mir mein eigenes Fleisch von den Knochen gerissen. Seine Augen glitzern. Er dreht sich um und humpelt den Pfad wieder zurück. Ich möchte ihm nachrennen, ihn an den Zaun schleudern und von ihm verlangen, mir zu sagen, warum er mich nicht vor der Bindung geholt hat. Ich will ihm die Schuld an diesen Banden um mein Handgelenk geben.
Ich möchte erklären, dass ich es niemals getan hätte, wenn ich gewusst hätte, dass er mich holen kommt. Ich möchte ihn bitten, mir zu vergeben, dass ich an ihm gezweifelt habe, daran gezweifelt habe, dass er gekommen wäre, um mich zu holen, ehe wir den Schwur Ewiger Treue abgelegt hätten. Ich möchte glauben, dass er die Heirat zwischen mir und seinem Bruder nie zugelassen hätte, der Durchbruch jedoch seine Pläne vereitelt hat.
Aber dann lenken Bewegungen im Wald mich ab, ein Fetzen Rot am Rande meines Sichtfeldes. Sie rennt nicht
mehr, sie geht und steht nicht mal mehr, jetzt kriecht sie. Sie schleift ihren geschundenen Körper über den Boden auf mich zu, ihre Finger krallen sich in den Sand. Gabrielle kommt langsam voran, unerträglich langsam. Es ist schon beinahe traurig, sie so zu sehen. Ihr Körper scheint seine Energiereserven verbraucht zu haben und nun zusammenzubrechen.
Noch nie, solange wir uns erinnern, sind Ungeweihte gestorben. Sie vergehen nicht, es sei denn, sie werden enthauptet oder zu Asche verbrannt. Sie verwesen nicht, rei-ßen sich nur allmählich in Stücke, ein Prozess, der verlangsamt wird, wenn sie sich zur Ruhe legen – wie Tiere zum Winterschlaf. Und es ist seltsam, Gabrielle so zu sehen, derart hilflos. Beinahe flehend streckt sie die Arme nach mir aus. Ihr Stöhnen klingt jetzt leise und hoch wie das Jammern eines erschöpften Babys.
Aber ihre Augen sind immer noch dieselben. Ihre Bedürfnisse auch.
Trotzdem schmerzt mich für sie, was aus ihren Träumen geworden ist. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie im Münster am Fenster gestanden hat, und ich frage mich, ob es in ihrem Leben auch so viele Komplikationen gegeben hat wie in meinem. Ob sie sich wohl auch jemals zwischen Pflicht und Liebe hin und her gerissen gefühlt hat? Ob ihre Existenz jetzt einfacher geworden ist, da es nur noch um ein Bedürfnis, ein Begehren geht?
Ich denke an Travis und Harry und an diesen endlosen Pfad, und ich begreife, dass der Tod manchmal kommt, ehe man ihn erwartet. Selten genug sind wir darauf gefasst,
dass unsere
Weitere Kostenlose Bücher