The Forest - Wald der tausend Augen
wir alles sind, was es noch gibt auf der Welt? Wir dürfen doch nicht sterben.Wir können doch nicht das Ende von allem sein.«
Harry schaut mit großen Augen in die Runde, seine Wangen sind ganz rot angelaufen. An mir bleibt sein Blick am Ende hängen, es ist, als würde er eine stumme Bitte um Hilfe zu mir aussenden.Als ob ich schon wissen würde, was zu tun ist.
Ich schaue auf meine Hände. »Die Pfade sind gekennzeichnet«, sage ich schließlich. »Ganz unten, wo sie sich teilen. Da ist ein Metallstreifen, auf dem Buchstaben stehen. Auf dem Tor bei unserem Dorf waren auch Buchstaben. Solche wie auf der Truhe, die wir gefunden haben.«
Harrys Augen werden noch größer, und dann macht er sich von Cass los und kniet sich an die Stelle, an der die Pfade auseinandergehen. Er schiebt das wuchernde Gras beiseite und findet schließlich die kleine metallene Markierung, die er laut vorliest: »I-V und V-I-I.«
Ich nestele an dem schmutzigen Bindungsstrick, der
noch immer mein Handgelenk umschließt. Die Buchstaben, die Gabrielle für mich auf dem Fenster hinterlassen hat, will ich nicht mit ihnen teilen. Das ist die letzte Verbindung zwischen uns. Unser letztes Geheimnis. »Diese Buchstaben müssen eine Bedeutung haben«, sage ich nur. »Ich glaube, wenn wir ihnen folgen, werden wir herausfinden, wie sie angeordnet sind. Wir werden das Muster deuten können und wissen, wohin sie führen.«
Mit einem leisen, kehligen Knurren sagt Cass: »Na und? Wir sind jetzt einem dieser Pfade gefolgt und in eine Sackgasse geraten. Er hat uns nirgendwohin geführt. Es ist genau so, wie man es uns erzählt hat, als wir aufwuchsen. Der Wald der tausend Augen hat kein Ende!«
»Und wenn sie uns angelogen haben?«, fragt Travis in ruhigem und bedächtigem Ton. Der Reihe nach schaut er uns an. »Was den Pfad betrifft, haben sie uns eindeutig angelogen. Die Wächter haben hier Vorräte deponiert, obwohl uns gesagt worden ist, dass der Zutritt zu diesem Pfad verboten ist. Und zwar für immer.Was ist, wenn der Wald ein Ende hat?«
»Wir müssen zurück«, wiederholt Cass. Aber dieses Mal fallen ihre Schultern nach vorn, ihr Gesicht ist schlaff vor Erschöpfung und ihre Stimme klingt hohl. »Bitte«, fügt sie hinzu. Sie wendet sich zu Harry um und sagt noch einmal: »Bitte.« Aber keiner rührt sich und schließt sich ihr an, und am Ende dreht sie sich um und stolpert den Pfad entlang – weg von uns.
Weit kommt sie nicht, ehe sie auf die Knie fällt und anfängt zu schluchzen. Große, erschütternde Schluchzer,
die von den Ungeweihten erwidert zu werden scheinen, die um uns herum gegen die Zäune drücken. Schließlich steht Jed auf und geht zu ihr. Zuerst hält sie eine Hand hoch, als wolle sie ihn abwehren, aber das lässt er nicht zu.
Stattdessen setzt er sich neben sie, zieht sie auf seinen Schoß und legt ihr die Arme um die Schultern. Ich erinnere mich noch daran, wie er mich so gehalten hat, wenn ich als Kind wimmernd aus einem Albtraum erwacht bin. Ich muss den Kopf abwenden, als ich sehe, wie Jed Cass wiegt. Meine Augen brennen vor Sehnsucht nach diesen Tagen. Damals, als die Ungeheuer in meinen Träumen meine einzige Sorge waren. Damals, als mein Bruder immer da war, um mich zu trösten.
Wir setzen uns hin. Jeder ist in seiner eigenen Welt. »Und wenn sie recht hat?«, sagt Travis schließlich. »Was ist, wenn wir die letzten Menschen sind?«
Keiner von uns antwortet.
21
D en größten Teil des Tages verbringen wir mit dem Rückweg. Auf dem neuen Pfad, den wir gewählt haben, kommen wir nicht recht voran. Alle sind erschöpft, deshalb beschließen wir, unser Lager früh aufzuschlagen. An diesem Abend schleiche ich mich davon und gehe zurück zu der Stelle, an der wir uns von Gabrielle getrennt haben. Erst ein Tag ist vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, seit ich die Markierungen an den Zäunen gefunden habe. Aber als ich in den Wald schaue, sehe ich sie nicht. Keine Spur von diesem seltsamen Rotton.
Ich setzte mich hin, ziehe die Knie an die Brust und genieße die Einsamkeit. Diesen allzu kurzen Augenblick, ehe die Ungeweihten mich wittern und anfangen, an die Zäune zu hämmern, weil sie mich haben wollen. Nur selten kann man ohne die Ungeweihten am Zaun sitzen, wenn doch, bekommt man so etwas wie einen flüchtigen Eindruck davon, wie das Leben vor der Rückkehr gewesen sein muss.
Meine Haut kribbelt, dann höre ich schlurfende Schritte hinter mir. Ich ducke mich und drehe mich um, aber es ist
nur
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